Von: APA/Reuters/dpa
Großbritannien steht nach einem Erdrutschsieg der Labour Party bei der Wahl vor einem Kurswechsel. “Es dürfte jedem klar sein, dass unser Land einen größeren Neustart braucht”, sagte der neue Premierminister Keir Starmer am Freitag vor seinem Amtssitz in der Downing Street 10 in London. “Sie haben uns ein klares Mandat erteilt, und wir werden es nutzen, um Veränderungen herbeizuführen.” Starmers konservativer Vorgänger Rishi Sunak will bald auch als Parteichef zurücktreten.
Labour gewann bei der Wahl nach Auszählung von 648 der insgesamt 650 Sitze im Unterhaus 412 Sitze und damit 210 mehr als bei der letzten Abstimmung. Die Konservativen kamen auf 121 Sitze, 244 weniger – und damit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Die Liberaldemokraten errangen 71 Sitze, ein Plus von 60.
Die rechtspopulistische Partei “Reform UK” des Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage gewann vier Sitze. Sie bekam in vielen Teilen des Landes mehr Stimmen als die Konservativen. Farage selbst schaffte bei seinem achten Versuch den Einzug ins britische Unterhaus. Die in Schottland regierende Schottische Nationalpartei (SNP) verlor 38 Mandate und kam auf lediglich neun Sitze.
Mit dem Sieg von Labour gehen 14 oft sehr turbulente Jahre unter einer konservativen Regierung in Großbritannien zu Ende. “Der Wandel beginnt jetzt”, sagte Starmer. “Heute schlagen wir das nächste Kapitel auf, beginnen die Arbeit des Wandels, die Mission der nationalen Erneuerung und beginnen mit dem Wiederaufbau unseres Landes.” Trotz seines klaren Sieges herrscht aber laut Umfragen keine Begeisterung für Starmer und seine Partei.
Sunak kündigte seinen Rücktritt vom Vorsitz der Konservativen Partei in absehbarer Zeit an. “Dem Land möchte ich zuallererst sagen, dass es mir leid tut”, wandte er sich in einer Ansprache vor dem Amtssitz Downing Street an die Wähler. Er habe sein Bestes gegeben, aber die Wähler hätten ein klares Signal gesendet. “Ich habe Ihren Ärger und Ihre Enttäuschung vernommen und übernehme die Verantwortung.” Noch am Freitag reichte er bei König Charles seinen Rücktritt ein, dann wurde sein Nachfolger bei dem Monarchen vorstellig. Die Thronrede des Königs, die das Programm der neuen Regierung darlegt, ist für den 17. Juli geplant.
Die Konservativen bekamen von den Wählern die Quittung für hohe Lebenshaltungskosten, marode öffentliche Einrichtungen wie den Gesundheitsdienst NHS und eine Reihe von Skandalen präsentiert. Die Steuerlast ist so hoch wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Nettoverschuldung entspricht fast der jährlichen Wirtschaftsleistung, der Lebensstandard ist gesunken. Auch das Thema Einwanderung beschäftigt die Briten, viele erwarten eine deutliche Begrenzung. Sie wählten eine ganze Reihe von prominenten Politikern in ihren Wahlkreisen ab. So verlor Liz Truss, Vorgängerin von Sunak als Regierungschefin, ihren Sitz im Parlament. Auch zehn Kabinettsmitglieder erlitten in ihren Wahlkreisen eine Schlappe, darunter Verteidigungsminister Grant Shapps.
Starmer, der seit 2020 Labour-Chef ist, hat nun einiges zu tun. “Ich verspreche Ihnen nicht, dass es einfach sein wird”, sagte er. “Ein Land zu verändern, ist nicht wie das Umlegen eines Schalters. Es ist harte Arbeit. Geduldige, entschlossene Arbeit, und wir müssen sofort loslegen.” Im Wahlkampf hatte er die Ankurbelung der Wirtschaft zu seinem wichtigsten Ziel erklärt. Geplant ist unter anderem ein Nationaler Wohlstandsfonds, der mit 7,3 Milliarden Pfund (8,62 Mrd. Euro) ausgestattet werden soll. Vorgesehen ist zudem ein Schub für umweltfreundliche Energieerzeugung. Bis 2030 soll die an Land gewonnene Windenergie verdoppelt, die Solarenergie verdreifacht und die Offshore-Windenergie vervierfacht werden. 8,3 Milliarden Pfund sollen in das zu gründende staatliche Unternehmen Great British Energy fließen.
Auf Steuererhöhungen will Labour verzichten. In der Budgetpolitik wird einer von Sparzwängen bestimmten Austeritätspolitik eine Absage erteilt. Angestrebt werden aber ausgeglichene Etats, in denen sich Ausgaben und Einnahmen die Waage halten. Neue Finanzministerin könnte Rachel Reeves werden, die früher bei der Bank of England arbeitete. Sie wäre damit die erste Frau auf diesem Posten in Großbritannien.
Die Konservativen regierten in Großbritannien seit 2010. Sunak hatte die Parteiführung und damit das Amt des Regierungschefs im Herbst 2022 übernommen. Er war Nachfolger von Premierministerin Liz Truss, die mit ihrer Politik Turbulenzen an den Finanzmärkten ausgelöst hatte und nach 49 Tagen im Amt zurücktreten musste. Zuvor hatte auch deren Parteikollege Boris Johnson nach verschiedenen Skandalen seinen Hut nehmen müssen.
Die Unzufriedenheit über die beiden Vorgänger Sunaks war nach Angaben des Politikwissenschafters John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow der Hauptgrund für die desaströse Niederlage der Tories.
Seinen eigenen Wahlkreis gewann Sunak deutlich. Sunak sagte, er freue sich darauf, in den kommenden Wochen mehr Zeit in seinem Wahlkreis zu verbringen. Die Konservative Partei wird jetzt die Opposition im Unterhaus stellen und steht vor einem Richtungsstreit. Erwartet wird, dass ihr ein weiterer Rechtsruck bevorsteht.
Nach den schweren Mandatsverlusten ist die Partei ausgedünnt. Mehrere potenzielle Nachfolger haben ihren Sitz verloren, darunter Shapps und die bisherige Ministerin für Parlamentsfragen, Penny Mordaunt. Handelsministerin Kemi Badenoch dagegen, der bisher ebenfalls gute Chancen eingeräumt werden, verteidigte ihr Mandat. Sie steht am rechten Rand innerhalb der Partei, ebenso wie die frühere Innenministerin Suella Braverman, die ebenfalls als aussichtsreiche Kandidatin für die Parteiführung gilt.
Als moderatere potenzielle Kandidaten gelten der bisherige Innenminister James Cleverly und der bisherige Staatssekretär Tom Tugendhat. Auf die Frage, ob er sich bewerben wolle, antwortete Cleverly in einem Interview mit dem Sender Sky News eher ausweichend. Unter den prominenten Tories, die am Donnerstag ihren Sitz verloren, war auch der ehemalige Minister für Brexit-Chancen und langjährige konservative Politiker Jacob Rees-Mogg. Er unterlag im Wahlkreis North East Somerset and Hanham seinem Labour-Herausforderer.