Schwere Zerstörungen in Jabalia (Archivbild)

Laut Hamas viele Tote bei Angriffen auf Flüchtlings-Stadt

Sonntag, 19. November 2023 | 00:47 Uhr

Von: APA/dpa/AFP

Bei zwei israelischen Angriffen auf die hauptsächlich von Flüchtlingen bewohnte Stadt Jabalia im Gazastreifen sind nach Angaben des von der radikalislamischen Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums am Samstag mehr als 80 Menschen getötet worden. Unterdessen wurde das Shifa-Krankenhaus in der Stadt Gaza größtenteils geräumt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitet mit Hochdruck an einem Plan zur Rettung verbliebener Patienten, denn die Situation sei “erbärmlich”.

Die von der UNO betriebene und als Flüchtlingsunterkunft genutzte Al-Fachura-Schule in Jabalia sei am Samstag früh beschossen worden, sagte ein Ministeriumsvertreter der Nachrichtenagentur AFP. Dabei seien 50 Menschen getötet worden. Bei einem zweiten Angriff auf ein weiteres Gebäude in Beit Lahia wurden laut Ministeriumsvertreter 32 Mitglieder einer Familie getötet. Das Gesundheitsministerium veröffentlichte eine Liste mit den Namen aller beim zweiten Angriff getöteten Familienmitglieder. Den Angaben nach waren 19 der Todesopfer Kinder. Die israelische Armee teilte mit, die Berichte würden geprüft.

Ägypten hat den Beschuss einer UN-Schule im nördlichen Gazastreifen als “schrecklichen Bombenanschlag der israelischen Besatzungstruppen” scharf verurteilt. Das Außenministerium erklärte am Samstag, man betrachte den Vorfall als ein weiteres Kriegsverbrechen, das untersucht werden müsse und dessen Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Das israelische Militär teilte mit, man prüfe Berichte zu dem angeblichen Angriff.

Jordanien verurteilte in einer Erklärung des Außenministeriums die “abscheulichen und anhaltenden Kriegsverbrechen” Israels auf das Schärfste. Dazu zähle auch der jüngste Angriff auf die UNO-Schule. Es handle sich um “einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht”.

Der Chef des UNO-Palästinenserhilfswerks (UNRWA), Philippe Lazzarini, schrieb auf X, vormals Twitter, er habe schreckliche Bilder und Videos von Dutzenden getöteten und verletzten Menschen erhalten. “Diese Angriffe dürfen nicht alltäglich werden, sie müssen aufhören”, schrieb Lazzarini. Er forderte eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gaza-Krieg. Nach Angaben Lazzarinis hatten in dem Gebäude Tausende Binnenflüchtlinge Zuflucht gesucht.

Online verbreitete Aufnahmen zeigten mit Staub und Blut befleckte Leichen in der Al-Fachura-Schule, wo Matratzen unter Schulbänken ausgebreitet waren. Die Echtheit der Aufnahmen ließ sich nicht verifizieren.

Die israelische Nachrichtenseite ynet schrieb, es sei unklar, ob es sich um einen israelischen Angriff oder eine fehlgeleitete Rakete palästinensischer Terroristen handelte. Aus dem Gazastreifen wurden am Samstag nach israelischen Militärangaben erneut mehrere Raketen auf israelische Grenzorte sowie die Küstenstadt Ashkelon abgefeuert. Nach Darstellung der israelischen Armee geht etwa ein Fünftel der abgefeuerten Raketen im Gazastreifen nieder.

Jabalia im Norden des Gazastreifens ist das größte von acht Flüchtlingsstädten in dem Palästinensergebiet. Mehr als 80 Prozent der Bewohner der Stadt sind Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen, die ihre Häuser bei der Gründung des Staats Israel im Jahr 1948 verlassen hatten.

Anfang November hatte die Hamas-Regierung erklärt, dass bei israelischen Bombardierungen der Flüchtlingsstadt mehr als 200 Menschen innerhalb von drei Tagen getötet worden seien. Hunderte weitere Menschen seien verletzt worden.

Im Shifa-Krankenhaus sind unterdessen laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium nur noch etwa 120 Verletzte und eine nicht näher genannte Zahl von Frühgeborenen in der größten Klinik des Gazastreifens. Die Situation dort sei “erbärmlich”, es gebe kein Wasser, keinen Strom, keine Nahrungsmittel mehr und kaum noch medizinischen Bedarf, haben laut WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus WHO-Mitarbeiter festgestellt. Angesichts dessen und “des Zustands vieler Patienten, darunter Babys, bat das Personal um Unterstützung bei der Evakuierung von todkranken Patienten, die dort nicht mehr versorgt werden können”, schrieb er auf X, früher Twitter. Die WHO arbeite nun mit Partnern an einem Plan zur Rettung dieser Menschen – und verlange Unterstützung. Von wem – Israel, Militär, Hamas – sagte er nicht. Aber: “Die derzeitige Situation ist unerträglich und nicht zu rechtfertigen”, schrieb er. “Feuerpause. JETZT”, fügte er hinzu.

Auch Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und deren Angehörige sind nach Angaben der Hilfsorganisation in der Nähe des Shifa-Krankenhauses eingeschlossen. Insgesamt gehe es um 137 Menschen, darunter 65 Kinder, denen es wegen der anhaltenden heftigen Kämpfe nicht möglich sei, das Gebiet sicher zu verlassen, erklärte die Organisation am Samstag. Bisherige Versuche, die Mitarbeiter und deren Familien zu evakuieren, seien gescheitert.

Die israelische Armee durchsuchte den vierten Tag in Folge den weitläufigen Gebäudekomplex des Krankenhauses, unter dem sie eine Kommandozentrale der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas vermutet. UNO-Angaben zufolge befanden sich vor der jüngsten Evakuierung rund 2.300 Patienten, Verletzte und Vertriebene in dem Krankenhaus.

Israel ruft die Menschen in Gaza und dem nördlichen Gazastreifen seit Wochen dazu auf, aus Sicherheitsgründen in den Süden des abgeriegelten Küstenstreifens zu fliehen. Am Samstag forderte die Armee die Bewohner mehrerer Viertel der Stadt Gaza erneut zur Evakuierung auf. Bis 16.00 Uhr Ortszeit (15.00 Uhr MEZ) sollten Anrainer zu ihrer eigenen Sicherheit aus den Stadtteilen im nördlichen Gazastreifen in den Süden fliehen, schrieb ein Sprecher der Armee am Samstag auf Arabisch auf der Plattform X, vormals Twitter. Zur Evakuierung aufgerufen waren auch Bewohner von Jabalia. Zivilisten, die von der Terrororganisation Hamas an der Flucht gehindert würden, könnten sich per Telefon oder über die Plattform Telegram an die israelische Armee wenden, hieß es. Die Armee kündigte zudem eine vierstündige “taktische” Kampfpause im Flüchtlingslager Shabura in Rafah im Süden des Gazastreifens aus humanitären Gründen an. In der Gegend liegt auch der Grenzübergang nach Ägypten.

Im Westjordanland tötete Israels Armee indes eigenen Angaben zufolge “mehrere Terroristen” in einem Flüchtlingslager in der Stadt Nablus. Ein Fluggerät habe bei dem Einsatz in Balata deren Versteck angegriffen, teilte das Militär am Samstag mit. Palästinensischen Angaben zufolge wurden bei dem Drohnenangriff der israelischen Armee in der Nacht auf Samstag fünf Männer getötet. Laut der palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA wurden dabei auch zwei Menschen verletzt.

Die getöteten Palästinenser planten nach Darstellung der Armee Anschläge gegen israelische Zivilisten und militärische Ziele. Einer der Toten sei in der Vergangenheit bereits an Anschlägen beteiligt gewesen. Während der Razzia in dem Flüchtlingslager hätten Angreifer auf die Einsatzkräfte geschossen. Die Soldaten erwiderten Armeeangaben zufolge das Feuer.

Nach einem WAFA-Bericht wurde auch in Tubas im Norden des Westjordanlands ein Palästinenser bei Konfrontationen im Zuge einer Razzia des israelischen Militärs getötet.

Die Lage im Westjordanland hat sich seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas am 7. Oktober deutlich zugespitzt. Rund 200 Palästinenser wurden seither nach Angaben des Gesundheitsministeriums getötet.