Von: APA/Reuters/dpa/AFP
Infolge neuer russischer Angriffe sind in der ostukrainischen Großstadt Charkiw laut offiziellen Angaben mindestens sieben Menschen verletzt worden. “Der Feind hat Charkiw die ganze Nacht über angegriffen”, teilte der Militärgouverneur der Region, Oleh Synjehubow, Dienstagfrüh auf Telegram mit. Trümmerteile von Kampfdrohnen, die die ukrainische Luftverteidigung abschoss, seien in mehreren Stadtteilen herabgestürzt und hätten Schäden an Gebäuden und Fahrzeugen angerichtet.
Unter den Verletzten sind laut Synjehubow ein 61-jähriger Mann sowie zwei Frauen im Alter von 69 und 72 Jahren. Auch andere ukrainische Regionen wurden in der Nacht von Russland mit Kampfdrohnen beschossen – darunter Odessa, Mykolajiw und Dnipropetrowsk. Die Ukraine schoss nach eigenen Angaben in der Nacht 28 von 29 russischen Drohnen ab. Die russischen Angriffe ereigneten sich in insgesamt sieben ukrainischen Regionen, teilte die ukrainische Luftwaffe auf Kurznachrichtendienst Telegram mit.
Über 14.000 Menschen sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Beginn der russischen Offensive in der Region Charkiw vertrieben worden. Fast 189.000 Zivilisten hielten sich dort weiterhin in Gebieten auf, die höchstens 25 Kilometer von der russischen Grenze entfernt seien, sagte der Vertreter der WHO in der Ukraine, Jarno Habicht, am Dienstag. Wegen der anhaltenden Kämpfe im Grenzgebiet seien sie “erheblichen Gefahren ausgesetzt”. Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) äußerte sich “äußerst besorgt” über die Zunahme “der humanitären Bedürfnisse und die Zwangsumsiedlungen” infolge der russischen Offensive.
Die russische Armee hatte in der Region Charkiw am 10. Mai eine Bodenoffensive gestartet und dabei die größten Geländegewinne in dem Krieg seit Ende 2022 verzeichnet. Mittlerweile hat sich die Offensive Beobachtern zufolge verlangsamt, ist aber nicht völlig zum Stillstand gekommen. Der russische Präsident Wladimir Putin begründete die Offensive mit den verstärkten ukrainischen Angriffen auf russisches Gebiet.
Am Dienstag meldeten die Behörden in der russischen Grenzregion Belgorod einen weiteren Angriff der ukrainischen Armee. Ein Auto sei in dem Dorf Oktjabrsky von einer Drohne getroffen worden, erklärte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow im Onlinedienst Telegram. Eine Frau sei dabei getötet worden. Drei weitere Insassen des Autos wurden laut Gladkow verletzt.
In der von Russland kontrollierten Stadt Donezk im Osten der Ukraine wurde nach Angaben des von Moskau eingesetzten Bürgermeisters Alexej Kulemsin außerdem ein Mann durch ukrainischen Beschuss getötet. Zudem seien mehrere Wohnhäuser und ein Einkaufszentrum beschädigt worden.
Die ukrainischen Streitkräfte haben zudem die von Russland kontrollierte, ostukrainische Region Luhansk nach Angaben der dortigen Besatzungsverwaltung mit amerikanischen ATACMS-Raketen angegriffen. Der Angriff auf die Stadt Swerdlowsk habe bereits am Montag stattgefunden, teilte Leonid Passetschnik, der von Russland eingesetzte Gouverneur, mit. Acht Menschen seien verletzt worden. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die sich am Dienstag zu einem Besuch in Kiew aufhielt, warf dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gezielten Terror gegen die Infrastruktur und die Zivilbevölkerung in der Ukraine vor. “Dass nach diesem Winter dieser Terror auf die Infrastruktur weitergeht, zeigt, dass der russische Präsident das Land zerstören will, hier das Leben der Menschen zerstören will”, sagte sie bei der Visite eines der größten Kraftwerke der Ukraine. Die Außenministerin ließ sich in dem bei einem russischen Raketenangriff zerstörten Kraftwerk vom ukrainischen Energieminister Herman Haluschtschenko über die angespannte Energieversorgung informieren lassen. Haluschtschenko sagte, Russland habe damals insgesamt 11 Raketen abgefeuert. Davon seien nur 6 von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen worden, weil keine Raketen mehr zur Verfügung gestanden hätten.
Angesichts dessen, dass in der Ukraine nicht genügend Luftabwehr bereitstehe, appelliere sie “an internationale Partner weltweit, dass wir mehr Luftabwehr brauchen, um nicht nur Großstädte zu schützen, sondern gerade auch die Infrastruktur”, sagte Baerbock. “Jedes Zaudern und jedes Zögern bei der Unterstützung der Ukraine kostet das Leben unschuldiger Menschen. Und jedes Zaudern bei der Unterstützung der Ukraine gefährdet auch unsere eigene Sicherheit”, so Baerbock bei einem gemeinsamen Auftritt mit ihrem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba in Kiew. Kuleba warnte: “Wenn man Russland nicht jetzt und hier stoppt, fliegen dessen Raketen irgendwann weiter.”
Der Kreml führte unterdessen den Ruf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach einem stärkeren Konfliktengagement des Westens hinsichtlich des russischen Angriffskrieges auf sein Land darauf zurück, dass sich die ukrainischen Truppen an der Front in einer äußerst ungünstigen Lage befänden. Gleichzeitig sei es der Führung in Kiew aber bewusst, dass selbst zunehmende Waffenlieferungen nichts an der Dynamik auf dem Schlachtfeld ändern könnten, sagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow am Dienstag in Moskau. Selenskyj hat wiederholt mehr Unterstützung aus dem Westen gefordert. In einem am Montag veröffentlichten Interview der Nachrichtenagentur Reuters rief er die westlichen Verbündeten dazu auf, von ihrem Territorium aus russische Raketen und Drohnen über der Ukraine abzuschießen.