Von: apa
Kurz nach der EU-Wahl muss sich ein Geburtstagsinterview mit Robert Menasse, der am 21. Juni 70 wird, notwendigerweise vor allem um Europa drehen, denkt man. In seinen Romanen “Die Hauptstadt” und “Die Erweiterung” war die EU das zentrale Thema, in vielen Essays (zuletzt: “Die Welt von morgen”) hat er sich mit ihr beschäftigt. Doch Menasse überrascht mit Thesen zu Österreichs innenpolitischer Zukunft. Zum Geburtstag feiert er mit Freunden, “dass wir noch Glück gehabt haben”.
APA: Herr Menasse, manche haben die EU-Wahl mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen: Doch nicht so schlimm geworden wie befürchtet! Wie sehen Sie das Ergebnis? Rechtsruck oder Stärkung der Mitte?
Robert Menasse: Wenn die Mitte den Rechten nachhoppelt und sogar schamlos ankündigt, mit den Postfaschisten zu kooperieren, dann kann man die Mitte nicht mehr als Mitte, sondern nur noch als Gefahr bezeichnen. Sie ist die eigentliche Gefahr. Denn der Plafond der Rechtsextremen ist überall in Europa bei 30 Prozent. Etwas anrichten können sie nur, wenn sie in sogenannte Verantwortung geholt werden, wenn mit ihnen koaliert wird. Das ist europapolitisch so, und das ist in unserem kleinen Österreich so. Herr Vilimsky kann martialisch ankündigen, was er will, EU-Wahnsinn stoppen und so weiter, es ist unerheblich. Er sitzt seit zehn Jahren im Europäischen Parlament, was hat er bisher gestoppt? Es ist lächerlich. Aber wenn die Mitte glaubt, die Stimmen von seinesgleichen zu brauchen, wird es gemeingefährlich.
In Österreich kann Herr Kickl sich täglich zum Volkskanzler ausrufen, er bleibt doch ewig nur ein kleiner, schriller Oppositionspolitiker – außer die Mitte, in diesem Fall die ÖVP, bildet mit der FPÖ eine Regierung. Dass sie dazu imstande ist, wissen wir. Wir wissen es seit Schüssel, wir wissen es, weil sie es in drei Bundesländern bereits macht, und wir wissen, dass es der ÖVP sogar egal ist, Vizekanzlerpartei zu sein, sie hat damit ja eine lange Erfahrung. Wenn sie die Ministerien bekommt, die sie haben will, ist ihr egal, wer unter ihr den Kanzler stellt. Die Gefahr ist also nicht Kickl, die Gefahr ist die ÖVP. Aber ich halte es sogar für möglich, dass die ÖVP ihr Versprechen “Keine Koalition mit der Kickl-FPÖ” hält – und es in ihrer Verblendung noch dümmer anstellt.
APA: Was meinen Sie damit?
Menasse: Kickl hat bekanntlich Philosophie studiert. Und zwar bei dem Professor, bei dem ich in Philosophie promoviert habe, einem außergewöhnlichen, exzellenten Lehrer. Kickl studierte natürlich nach meiner Zeit, aber ich traf eines Tages besagten Professor, wir redeten und er sagte: Ich habe da jetzt einen Studenten, er heißt Kickl, kennen Sie ihn? Er ist hochbegabt, aber er ist mir unheimlich. Jedenfalls: Kickl hat das Studium zwar abgebrochen, aber er hat bei diesem Professor zweifellos dialektisches Denken gelernt, und damit ist er den mechanischen Phrasendreschpuppen natürlich überlegen. Karl Nehammer, oder wer dann auch immer ÖVP-Parteiobmann sein wird, ist chancenlos, wenn er mit Kickl die Regierungsbildung verhandelt.
APA: Sie meinen, Nehammer wird Vizekanzler und die FPÖ schlägt jemanden anderen aus ihrer Partei zum Bundeskanzler vor?
Menasse: Nein, warten Sie. Ich sagte doch, Kickl kann dialektisch denken. Das heißt, er kann das zusammendenken: keine Koalition der ÖVP mit ihm, aber die Regierung doch in seiner Hand. Wie geht das? Ganz einfach: indem er der ÖVP vorschlägt, eine Minderheitsregierung mit seiner Duldung zu bilden. Da wäre die ÖVP sogar Kanzlerpartei, hätte alle Ministerien, aber Kickl hätte sie in der Hand, kann sie vor sich her treiben, aber zugleich alles, was schiefläuft, als Oppositionspolitiker anprangern. Und dann kommt die Präsidentschaftswahl.
APA: Und Kickl kandidiert?
Menasse: Er, oder Hofer. Eher Hofer oder ein anderer Wolf, der Kreide gegessen hat. Haimbuchner? Egal. Der Freiheitliche Präsident wird dann tun, was er verfassungsgemäß machen kann: Regierung auflösen, eine sogenannte Expertenregierung einsetzen, die Österreicher werden sogar noch jubeln, endlich wieder eine Expertenregierung! Aber natürlich mit Kickl als Kanzler. Und auf Vorschlag der Regierung kann der Präsident dann das Parlament auflösen. Und dann beginnt der radikale Umbau unserer Republik. Der geniale Verfassungsrechtler Professor Welan, der vor kurzem gestorben ist, hat übrigens vor so einem Szenario gewarnt. Inzwischen lesen alle nur Meinungsumfragen, um zu wissen, was sie sagen müssen, im Glauben, dem Volk nach dem Mund zu reden. Die Meinungsforscher können Meinungen sammeln, aber sie können sie nicht verstehen, das ist das Problematische und Zündelnde dieser Zunft.
APA: Sie sind auf meine Frage nach der EU-Wahl gleich Richtung österreichische Innenpolitik abgebogen. Lassen Sie uns von der Zukunft Österreichs zur “Welt von morgen” kommen, die Sie in Ihrem jüngsten Essay behandeln. Dort plädieren Sie erneut für eine nachnationale Demokratie und die Reform der herrschenden EU-Strukturen. Ist das durch das aktuelle EU-Wahlergebnis nicht in weite Ferne gerückt? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass wir bald eine Lähmung oder zunehmende Aushöhlung der EU-Mechanismen erleben werden?
Menasse: Ja, schaut so aus. Aber ich habe eine Frohbotschaft: Bei Gefahr des sonstigen Untergangs werden Kräfte mobilisiert, die jetzt noch nicht sichtbar sind, politisch Verantwortliche werden dann vielleicht doch Dinge ermöglichen, die sie sich selbst jetzt noch nicht vorstellen können. Das war bei allen Krisen der EU bisher so. Natürlich kann es aber die EU auch wirklich zerreißen. Die Nationalisten haben Europa schon einmal in die Luft gesprengt, es kann ihnen auch wieder gelingen. Dann wird es, wie schon einmal, Misere und Elend geben, dagegen wird das Desaster, das wir in UK nach dem Brexit sehen, vergleichsweise ein Wellnessurlaub sein. Denn UK hat noch das Commonwealth und den größten Finanzmarkt usw. Die rechten Wähler, die Mitläufer, werden nach einer kurzen Euphorie einen ziemlichen Kater haben, viel mehr werden sie nicht haben. Und wenn dann der Wiederaufbau beginnt, der mühsame Aufstieg aus dem Krisental, werden sie keine Scham und keine Schuldgefühle haben, sie werden sagen: Wir haben es auch nicht leicht gehabt. Deshalb muss man schon jetzt bei jeder Gelegenheit den rechten Wählern zurufen: Ihr seid Täter! Die Mitläufer sind die Täter! Und die Parteien der Mitte, die euch nachlaufen, sind das Verhängnis!
APA: Mit 1. Juli übernimmt Ungarn die Ratspräsidentschaft. Hätte man das verhindern sollen? Und was wird das für die EU bedeuten?
Menasse: Man hätte es verhindern müssen. Aber man hat es nicht verhindern können. Das politische Kräfteverhältnis in der EU gibt es nicht her, und ich glaube, dass auch in den Verträgen entsprechende Sicherungen fehlen. Die ungarische Ratspräsidentschaft wird die rechten Blockaden in der EU stärken, die EU wird noch schlechter funktionieren, und die Böcke werden sich als Gärtner anbieten. Das ist der ganze EU-Wahnsinn. ER gehört gestoppt, aber dazu müsste die Einsicht wachsen, dass das bedeutet: die Orbans und die Orban-Träumer wie Vilimsky zu stoppen.
APA: Ob nun wieder von der Leyen oder jemand anderer die Spitze der Kommission übernimmt: Werden wir eine Abwendung des politischen Fokus vom Green Deal hin zu Fragen der militärischen Sicherheit erleben? Und sehen Sie eine Möglichkeit, das zu verhindern?
Menasse: Der Green Deal ist tot. Die Christdemokraten verstehen unter Renaturierung die Wiederherstellung der Welt des 19. Jahrhunderts. Ich habe den Verdacht, dass Kanzler Nehammer es als technologischen Fortschritt ansehen würde, wenn Verbrennermotoren auch noch Pferdeäpfel ausscheiden könnten und Österreich da Weltmarktführer würde. Ich weiß nicht, ob Menschen wie Nehammer, oder Weber, oder Totschnig oder Söder oder Fico oder – egal, die Männer heute in politischer Verantwortung, ob sie Kinder haben. Wenn ja, dann werden sie vielleicht auch Enkelkinder haben, und diese werden mit großer Verwunderung in der Schule lernen, dass ihre Großeltern ein riesiges Problem damit hatten, dass ein paar Tausend Flüchtlinge aus Kriegsgebieten gekommen sind, und dass dies ausgereicht hatte, dass viele Menschen ihr Heil bei Rassisten und Faschisten suchten – denn die Enkel werden mit Abermillionen Klimaflüchtlingen konfrontiert sein.
Und was die europäische Sicherheit betrifft: Es ist ein jahrzehntelanges Versäumnis, dass nie daran gedacht wurde, eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln. Das ist doch klar, dass auch ein Friedensprojekt wehrhaft sein muss, der Friede muss verteidigt werden können. Jetzt ist das Thema endlich auf dem Tisch, mal sehen, was rauskommt. Und während eine europäische Sicherheitspolitik diskutiert wird, plakatieren die österreichischen Sozialdemokraten vor der Europawahl: Neutralität sichern! Das ist traurig, Populismus für Arme.
APA: Angesichts der Weltlage – und wir haben noch gar nicht die USA, China oder den Nahen Osten erwähnt: Ist Ihnen zum 70er überhaupt zum Feiern zumute? Wie werden Sie den Geburtstag verbringen?
Menasse: Mit westlichem Zenbuddhismus.
APA: Was soll das sein?
Menasse: Wein, Zigaretten, ein bequemer Fauteuil, zurücklehnen, Augen schließen, bis der Geist so rein und einladend ist wie ein weißes Blatt Papier. Das ist westlicher Zenbuddhismus. Und dann lade ich Freunde ein, mit denen ich feiere, dass wir noch Glück gehabt haben.
APA: Glück gehabt? Das müssen Sie erklären. Muss bzw. darf man sich Robert Menasse also als glücklichen Menschen vorstellen? Trotz alledem?
Menasse: Ich bin glücklich, weil ich privat gute Gründe habe, glücklich zu sein. Aber grundsätzlich, verallgemeinert, muss ich sagen, dass meine Generation Glück gehabt hat. Seit der Geburt Friede, wachsender Wohlstand, die Kreisky Jahre, der Mauerfall und die Implosion der Sowjetunion, eine wichtige Erfahrung, der heiße Atem der Geschichte, und die Erkenntnis, dass politisch Wünschenswertes möglich ist, auch wenn noch einen Monat davor niemand es für möglich gehalten hatte, der EU-Beitritt Österreichs und der damit verbundene Glaube, dass meine Heimat den Minderwertigkeitskomplex ablegt und auch dessen Kehrseite, nämlich das irre Gefühl der Promenadenmischung, eine Herrenrasse zu sein, wir haben Glück gehabt, weil wir den besten Kultursender der Welt hatten, nämlich Ö1, weil wir freie Universitäten hatten mit tollen Lehrern, eine Arbeiterkammer auf einem Niveau, wie es keine amerikanische Universität hatte, einen Gewerkschaftsbund, der damals noch bei Sinnen war, wir lebten in einer Gesellschaft, die im Vergleich zu heute zu “Tschuschn” ein geradezu liebevolles Verhältnis hatte, und zu Jacaré, einem schwarzen Austria-Kicker, “unser Murl” sagte und es liebevoll meinte. Wir hatten eine Dohnal, und wenn ein Politiker jung und fesch war, dann war es ein Androsch und nicht ein Blender wie Grasser oder Kurz. Wir konnten mit gutem Grund sehr viel kritisieren, aber es führte nicht zu Gift und Hass. Und wenn Sie auf Camus anspielen mit der Frage, ob man sich mich als glücklichen Menschen vorstellen muss, dann frage ich Sie: ist es ein Glück, wenn die Rechten, die Populisten, die alle Errungenschaften und allen Geist zerstören, uns sogar den Felsblock weggenommen haben, den wir auf den Hügel rollen sollen? Ist es Glück, wenn man nicht einmal mehr scheitern kann?
APA: Welche Bedeutung hat dann Ihre Arbeit? An was schreiben Sie derzeit? Wie geht’s dem dritten Teil Ihrer Romantrilogie über die EU?
Menasse: Ich will nur noch Liebesgedichte schreiben.
(Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA)