Von: apa
Die EU-Staats- und Regierungschefs sollen laut Ratspräsident Charles Michel im Juni über ein großes Personalpaket entscheiden. “Es ist unsere Absicht, dass wir im Juni nach den Europawahlen die Debatte über die Ernennungen für das Team führen, das die EU für die nächsten fünf Jahre leitet”, sagte Michel im Interview mit der APA. Es liege an den 27 Staats- und Regierungschefs, inhaltlich, also über die Strategische Agenda, aber auch über das EU-Personal zu entscheiden.
Die Weichen stellen muss der Europäische Rat bezüglich der Besetzung der EU-Kommissionsspitze (derzeit Ursula von der Leyen), des EU-Parlamentspräsidenten (derzeit Roberta Metsola) sowie über Michels eigene Nachfolge. Auf die Frage, was er nach Ende seiner Amtszeit im November plane, gab sich der belgische Ex-Premier zurückhaltend: “Meine Zukunft ist nicht wichtig. Was zählt, ist die Rolle des Europäischen Rates.” Der Liberale Michel hatte im Jänner zunächst seine Kandidatur bei der bevorstehenden EU-Wahl angekündigt und kurz darauf wieder zurückgezogen. Nach zwei Amtszeiten von jeweils zweieinhalb Jahren kann Michel nicht als EU-Ratspräsident verlängert werden.
In Hinblick auf die Europawahlen im Juni forderte Michel die EU-Befürworter dazu auf, für das europäische Projekt aktiv einzutreten. “Diejenigen, die ernsthaft an den Zusatznutzen des EU-Projekts glauben, müssen darum kämpfen – in politischer Hinsicht und in den politischen Foren. Kämpfen und erklären, was der Mehrwert der EU ist.” So sei die EU Herausforderungen wie der Covid-Pandemie und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine gemeinsam begegnet. Umfragen könne er “nur mit einem Lächeln” sehen, sagte Michel in Hinblick auf einen prognostizierten Rechtsruck bei den EU-Wahlen. “Nach den Umfragen hätte der Brexit nicht stattgefunden. Nach den Umfragen hätte Donald Trump nicht die Wahlen gewonnen. Die einzigen Umfragen, die eine Auswirkung haben, sind die Wahlen.” Er sei zuversichtlich, dass die Befürworter des europäischen Projekt die Menschen davon überzeugen werden, “dass die richtige Wahl jene zugunsten der EU ist”.
Zur Gefahr von Fake News und Desinformation bei der Europawahl, etwa durch pro-russische Netzwerke, sagte Michel: “Es ist nicht leicht darauf zu reagieren, weil wir die Prinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit haben. Und diese Prinzipien sind grundlegend für uns. Aber es ist wirklich wichtig, dass wir (Desinformation, Anm.) aufdecken und dann lautstark damit umgehen, damit die Öffentlichkeit weiß, was auf dem Spiel steht, und dass wir Instrumente verwenden, um hybriden Attacken gegen uns entgegenzuwirken.”
In Hinblick auf die EU-Erweiterung betonte Michel, dass es weiterhin sein Ziel sei, die EU und die Kandidatenländer bis zum Jahr 2030 für den EU-Beitritt neuer Mitglieder bereit zu machen. “Ich bin sehr für diese Idee, dass man sich ein gemeinsames Ziel setzen muss, wenn man es ernst meint. In der Tat sollten wir auf beiden Seiten bis 2030 dafür bereit sein.” Während die Beitrittskandidaten Reformen umsetzen müssten, gehe es für die EU um drei Fragen für interne Reformen. “Nehmen wir die Landwirtschaft, da hätte ein EU-Beitritt der Ukraine Auswirkungen, die gelöst werden können, aber das müssen wir managen”, so der EU-Ratspräsident. Zweitens gehe es um finanzielle Solidarität und drittens um die Reform des Entscheidungsprozesses. “Einstimmigkeit ist hilfreich, um geeint zu sein, aber zugleich müssen wir oft schnell agieren und reagieren”, gab Michel zu bedenken. “Nicht alle Fragen sind einfach, aber es gibt zumindest den gemeinsamen politischen Willen, sich anzunähern.”
Auf die Frage, ob er Vetomöglichkeiten abschaffen wolle, antwortete Michel: “Ich denke, der Lissabon-Vertrag ist ein gutes Instrument. Er enthält vieles, was wir nutzen können und heute noch nicht nutzen” – eine Anspielung auf den möglichen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. “Das Problem mit dem Veto ist, dass es manchmal einen Missbrauch des Vetorechts gibt. Aber die Philosophie des Lissabon-Vertrags war, dass das Vetorecht die Ausnahme sein sollte, wenn wichtige Interessen eines Landes auf dem Spiel stehen. Vielleicht können wir Wege finden, um sicherzustellen, dass der Entscheidungsprozess nicht dazu verwendet wird, um ihn zu blockieren. Das haben wir zum Beispiel bei der Bereitstellung von militärischer Ausrüstung für die Ukraine gemacht. Wir haben die sogenannte konstruktive Enthaltung genutzt, damit es für die EU nicht unmöglich wird, Entscheidungen zu treffen. Auch wenn einige Länder ein bisschen zögerlich sind, aber nicht so sehr, dass sie andere blockieren.”
(Das Interview führte Thomas Schmidt/APA)