Von: APA/dpa
Der Iran steht nach dem Wahlsieg des gemäßigten Präsidentschaftskandidaten Massoud Pezeshkian vor einem möglichen Politikwechsel. Der frühere Gesundheitsminister setzte sich mit 53,7 Prozent der Stimmen gegen seinen ultrakonservativen Herausforderer Said Jalili durch. Das Staatsfernsehen zeigte Bilder von Anhängern, die den Wahlsieg des 69-Jährigen in den frühen Morgenstunden mit Hupkonzerten feierten. Der Unterlegene Jalili will Pezeshkian unterstützen.
Die wahre Macht im Iran liegt allerdings beim geistlichen Führer Ayatollah Ali Khamenei, der am Samstag umgehend “Kontinuität” anmahnte. Nach dem Sieg von Pezeshkian erklärte das geistliche Oberhaupt, der Wahlsieger solle den “Weg des Märtyrers Raisi fortsetzen” – damit nahm er Bezug auf den im Mai bei einem Hubschrauberabsturz verstorbenen ultrakonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi. Khamenei rief Pezeshkian zudem auf, für die Lebensqualität und den Fortschritt im Iran die “vielen Fähigkeiten” des Landes zu nutzen, besonders die “revolutionäre und gläubige Jugend”. Der geistliche Führer ist der politische Lenker des Landes, dem Präsidenten obliegt die Ausführung der von Khamenei festgelegten Leitlinien.
Angesichts der komplexen politischen Gemengelage und mächtigen Interessengruppen im Iran ist jedoch unklar, inwiefern vom Stichwahlsieger Pezeshkian tatsächlich ein signifikanter Kurswechsel zu erwarten ist. In der Hauptstadt Teheran waren die Reaktionen zunächst jedoch verhalten.
“Wir werden allen die Hand der Freundschaft reichen”, sagte Pezeshkian nach seinem Wahlsieg. “Lasst uns alle am Aufstieg des Landes arbeiten.” Auch politische Konkurrenten seien Brüder. “Wir sind alle Menschen dieses Landes. Wir sollten jeden für den Fortschritt des Landes nutzen.”
Der Unterlegene gratulierte seinem Kontrahenten am Nachmittag und sagte ihm seine Unterstützung zu. Auf der Plattform X schrieb Jalili, er werde Pezeshkian “Regierung helfen, um die Probleme zu überbrücken und den Fortschritt des Landes voranzutreiben”. Dass die verfeindeten Lager tatsächlich kooperieren, gilt allerdings als unwahrscheinlich.
Rund 61 Millionen Menschen waren am Freitag dazu aufgerufen, sich in der zweiten Abstimmungsrunde zwischen Pezeshkian und Jalili zu entscheiden. Das Innenministerium verlängerte die Möglichkeit zur Stimmabgabe mehrfach bis in die späten Abendstunden. Letztlich entschieden sich gut 16,4 Millionen Wahlberechtigte für den moderaten Kandidaten Pezeshkian, etwa 13,5 Millionen für Jalili.
Wie bereits bei der diesjährigen Parlamentswahl waren die Wochen vor der Abstimmung von auffälliger Gleichgültigkeit geprägt. In der ersten Runde schlug sich das in einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von rund 40 Prozent nieder. In der zweiten Runde erreichte die Beteiligung dann 49,8 Prozent.
Die vorgezogene Wahl folgte auf den Tod von Amtsinhaber Raisi, der im Mai bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen war. Seine knapp dreijährige Regierungszeit war von großer politischer Repression, Protestwellen und einer Verschlechterung der Wirtschaftslage geprägt.
Pezeshkian stammt aus dem Nordwesten des Landes. Während des Ersten Golfkriegs mit dem Nachbarn Irak absolvierte er ein Medizinstudium und diente zwischenzeitlich auch an der Front. Nach dem Krieg führte er seine Arbeit als Arzt fort und machte in der Millionenmetropole Tabriz als Herzchirurg Karriere.
Im Wahlkampf warb der eher unscheinbare Politiker für ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Volk, denn die meisten Iraner sind nach gescheiterten Reformversuchen maßlos enttäuscht von der Politik. Wie viele andere Politiker des Reformlagers auch forderte Pezeshkian eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen, auch um das Land zu öffnen und die angeschlagene Wirtschaft anzukurbeln.
Der Witwer, der Anfang der 1990er-Jahre seine Ehefrau und einen seiner Söhne bei einem Verkehrsunfall verlor, erschien bei seinen Wahlkampfterminen auch mit Tochter und Enkelkind. Mit seinem Bemühen um Nahbarkeit und dem Wahlkampfslogan “für Iran” wollte Pezeshkian deutlich machen, dass er sich für das Volk einsetze.
Inwieweit er dieses Versprechen einlösen will und kann, ist unklar. Pezeshkian bekundete seine uneingeschränkte Loyalität zu Religionsführer Ayatollah Ali Khamenei, der in allen strategischen Belangen das letzte Wort hat und der mächtigste Mann in der Islamischen Republik ist.
Während der zweiten Präsidentschaft Mohammad Khatamis (2001-2005) sammelte Pezeshkian bereits Regierungserfahrung als Gesundheitsminister. Trotz seiner gemäßigten Rhetorik stellte er sich hinter die mächtigen Revolutionsgarden, die Elitestreitmacht des Iran, und lobte den jüngsten Angriff mit Drohnen und Raketen auf den Erzfeind Israel im April. In den TV-Debatten bezeichnete er sich selbst als wertkonservativen Politiker, der jedoch Reformen für notwendig hält.
Das politische System des Iran vereint seit der Revolution von 1979 republikanische und auch theokratische Züge. Freie Wahlen gibt es jedoch nicht: Der sogenannte Wächterrat, ein mächtiges islamisches Kontrollgremium, prüft Kandidaten stets auf ihre Eignung. Von 80 Präsidentschaftsbewerbern ließ der Wächterrat diesmal nur sechs als Kandidaten zu. Zwei von ihnen zogen sich schon vor der ersten Abstimmungsrunde zurück.
Gratulationen an Pezeshkian trudelten etwa aus Russland, Saudi-Arabien und Kuwait ein. Die jeweiligen Staatsoberhäupter beglückwünschten den Iraner. So soll Russlands Präsident Wladimir Putin auf eine weitere Vertiefung der Beziehungen der beiden vom Westen hart sanktionierten Staaten hoffen. Der Iran lieferte dem Kreml etwa Drohnen für seinen Angriffskrieg in der Ukraine.
Auch der Kommandant der Revolutionsgarden, Hussein Salami, sendete Glückwünsche: “Wir sind umfassend bereit, die Zusammenarbeit und Interaktion zwischen den Revolutionsgarden und der Regierung fortzusetzen und zu stärken.” Die Revolutionsgarden sind Irans Elitestreitmacht und gelten als eine der mächtigsten Institutionen im Land.
Anders als in vielen anderen Ländern ist der Präsident im Iran nicht das Staatsoberhaupt. Die eigentliche Macht konzentriert sich auf den Religionsführer, seit 1989 ist das Khamenei. Auch die Revolutionsgarden haben ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten ausgebaut.
Im Wahlkampf debattierten die Kandidaten vor allem über Wege, die gravierende Wirtschaftskrise im Land zu bewältigen. Wegen seines umstrittenen Atomprogramms ist der Iran mit internationalen Sanktionen belegt und vom weltweiten Finanzsystem weitgehend abgeschnitten. Das Land benötigt Investitionen in Milliardenhöhe. Daneben diskutierten die Bewerber über innenpolitische Themen, Kulturpolitik und den Umgang mit dem Westen.
Den Glauben an große innenpolitische Veränderungen haben die meisten Iraner und vor allem junge Menschen inzwischen verloren. Reformen des politischen Systems seien nicht möglich, heißt es oft resigniert. Einige Aktivisten wie die inhaftierte Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi hatten vor der Präsidentenwahl zum Boykott aufgerufen.
Der Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 entfachte landesweite Proteste gegen das islamische Herrschaftssystem. Große Straßendemonstrationen hat es seitdem nicht mehr gegeben, wohl auch aus Angst vor gewaltsamer Repression. Die Enttäuschung ist jedoch allgegenwärtig. Viele gebildete Iranerinnen und Iraner wollen das Land verlassen.