Von: mk
Bozen – Noch bis morgen ist eine Delegation der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, angeführt von Ministerpräsident Oliver Paasch, in Südtirol, um im Autonomie-Jubiläumsjahr über aktuelle Herausforderungen der beiden Länder zu diskutieren und Bilanz über die langjährige Partnerschaft zwischen Südtirol und Ostbelgien zu ziehen.
Am Dienstag hat sich die Delegation nach einem Austausch mit der gesamten Landesregierung auch mit Gesundheitslandesrat Thomas Widmann und Vertretern des Gesundheitsbetriebes getroffen. “Das Gesundheitssystem von grenznahen Gebieten wie Südtirol und Ostbelgien steht vor ähnlichen Herausforderungen. Der gegenseitige Austausch zu aktuellen Themen und Maßnahmen im Gesundheitsbetrieb ist daher für beide Seiten sehr wertvoll”, erklärte Landesrat Widmann. “Bei unserem Gespräch haben wir unter anderem den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, den Abbau der Wartezeiten und die Schwierigkeiten im Personalmanagement, die die sprachliche Realität unserer Regionen mit sich bringt, thematisiert. Ein weiteres Gesprächsthema war auch der Ausbau des Breitbandsystems und die Vernetzung von peripheren Gebieten.”
Austausch in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Bevölkerungsschutz
Ebenfalls am Dienstag tauschten sich die ostbelgische Delegation und Ministerpräsident Paasch im Landhaus 7 in Bozen mit Landesrat Philipp Achammer über aktuelle Herausforderungen im Bildungsbereich aus. “Gerade die Handhabe der Studientitelanerkennung zwischen Südtirol und Österreich, unser Inklusionsmodell in der Schule sowie die berufsbegleitende Quereinsteigerausbildung, um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, sind für Ostbelgien interessant”, resümierte Landesrat Achammer.
Südtirol seinerseits habe in der Vergangenheit bei der Entwicklung der Schulbibliotheken sehr von den Erfahrungen Ostbelgiens profitiert: “Und zwar sowohl bei der Einführung einer modernen Bibliothekssoftware und beim Aufbau eines landesweiten Leihverkehrs als auch im Hinblick auf die Vermittlung der Informations- und Medienkompetenz”, erklärte Achammer. Anregungen zum Bau und der Einrichtung von Schulbibliotheken hätten beide Seiten bei gegenseitigen Bibliotheksbesichtigungen gewinnen können. “Heute zählt das Schulbibliothekswesen in Südtirol und jenes in Ostbelgien zu den fortschrittlichsten im deutschsprachigen Raum”, sagte Landesrat Achammer, der für den lebendigen Austausch in den Bereichen Bildung und Kultur sowie Arbeit und Wirtschaft dankte.
Am gestrigen Mittwochnachmittag hat die Delegation das Zivilschutzzentrum an der Drususallee in Bozen besichtigt: Der Direktor der Agentur für Bevölkerungsschutz Klaus Unterweger und sein Stellvertreter und Direktor des Landeswarnzentrums Willigis Gallmetzer gaben Einblick in die Tätigkeiten der Agentur für Bevölkerungsschutz im Allgemeinen und des Landeswarnzentrums im Besonderen. Danach führte der Direktor des Funktionsbereichs Wildbachverbauung Fabio De Polo die Delegation zu zwei Baustellen zum Hochwasserschutz im Unterland: zur Sperre im Brantental in Leifers und zum Etschdamm beim Brückenneubau in Neumarkt.
Bevölkerungsschutzlandesrat Arnold Schuler und Ministerpräsident Paasch tauschten sich dabei über die Unwetterereignisse im vergangenen Sommer aus, von denen Südtirol wie Belgien betroffen waren: “Der Schutz vor Naturgefahren”, unterstrich Landesrat Schuler, “erfolgt nach den Grundsätzen des integralen Risikomanagements: Dabei gilt es, eine nachhaltige und möglichst flächendeckende Sicherheit für Menschen und ihr Hab und Gut zu schaffen und langfristig zu erhalten.”
Delegation aus Ostbelgien auch im Landtag zu Besuch
Präsidentin Rita Mattei hat heute im Landtag eine hochrangige Delegation der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien empfangen: Oliver Paasch Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, der von Yves Kreins, Leiter der Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Brüssel und ehemaliger Präsident des Staatsrats, und Janina Vomberg, Referentin für Außenbeziehungen, begleitet wurde. Mattei konnte dabei auf eine lange Tradition verweisen: Der erste Besuch aus Eupen fand 1992 statt, damals wurde auch eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern vereinbart. Sie wies auf den 50. Geburtstag der Südtiroler Autonomie hin, wusste aber auch, dass Ostbelgiens nächstes Jahr auch 50 Jahre seiner Autonomie feiert. Sie informierte Ministerpräsident Paasch vom Vorstoß der Sonderautonomien Italiens, für die Minderheitengebiete eigene Wahlkreise für das Europäische Parlament zu erreichen. „Wenn die europäische Integration auch die Minderheiten berücksichtigt, ist der Wunsch nach einem Europa der Völker keine Utopie mehr.“
„Wir und Südtirol haben einen sehr guten Minderheitenschutz“, meinte Ministerpräsident Paasch und sah darin auch einen Grund, sich mit anderen Minderheiten solidarisch zu zeigen, zum Beispiel über die Mitarbeit in der FUEN. Während Südtirol auf seine Sonderautonomie besteht und sie ausbauen will, geht es der Deutschsprachigen Gemeinschaft darum, im Rahmen der anstehenden Staatsreform dieselben zusätzlichen Kompetenzen zu erhalten wie die zwei anderen Gemeinschaften auch. „Belgien ist ein föderalistischer Staat, das ist eine andere Voraussetzung. Neidisch sind wir Südtirol bei der Finanzautonomie.“ Während Südtirol rund 90 Prozent der Staatssteuern behalten kann, weist in Belgien ein Staatsgesetz den Bundesländern die Mittel zu, nach einem Schlüssel, der Bevölkerung, Wirtschaftswachstum und anderes berücksichtigt. „Wir haben keinen flexiblen Spielraum, um auf Krisen zu reagieren“, berichtete Paasch, „wegen Covid haben wir 90 Mio. Euro aus einem Haushalt von 400 Millionen ins Krisenmanagement stecken müssen, und 2009 war es noch schlimmer. Wir haben auch keinen Spielraum für neue Aufgaben, den Ausbau der Pflegezentren oder die Digitalisierung des ländlichen Raums.“ Ein weiteres Problem, das Paasch ansprach, war der akute Fachkräftemangel, ein Problem, das Ostbelgien und Südtirol gemeinsam haben, wie Mattei und Vizepräsident Josef Noggler bestätigten: „Die Konkurrenz durch die deutschsprachigen Länder ist enorm.“
Ein Thema, das die ostbelgische Delegation stark interessierte, war die Regelung zur direkten Demokratie in Südtirol. Darauf konnten Mattei und Noggler ausführlich Antwort geben, nicht zuletzt, weil derzeit ein Referendum über die Regeln der direkten Demokratie ansteht. In Belgien ist man von einer verbindlichen Volksabstimmung abgekommen, seit eine solche nach dem Krieg zu tiefen Gräben zwischen der flämischen und der wallonischen Gemeinschaft geführt hatte.