Von: mk
Charkiw – Die russische Offensive bei Charkiw gerät ins Stocken. Zwar setzt Moskau seine Raketenangriffe auf die Millionenstadt fort, doch Russlands Armee trifft auf mächtigen Gegenwind.
Die russischen Bodentruppen haben ihre Vorstöße in Richtung Charkiw am Samstag eingestellt, teilte der ukrainische Generalstab auf Telegram mit. Der Feind habe keine aktiven Operationen in Richtung Charkiw durchgeführt.
„Die Verteidigungskräfte unternehmen maximale Anstrengungen, um Stellungen zu stärken, Reserven aufzufüllen, Aufklärung durchzuführen und die Aktionen des Feindes unter Feuerkontrolle zu halten”, heißt es in der Mitteilung.
Bereits in den vergangenen Tagen haben die Ukrainer in der Nähe des Dorfes Lipsy russische Infanterievorstöße erfolgreich in Schach gehalten. Neben Soldaten waren dafür auch Drohnenoffiziere der 42. Brigade dafür verantwortlich. Viele russische Kämpfer sollen sich ergeben haben.
Ähnlich erging es den Russen an der Front bei Wowtschansk, das stark umkämpft war. Den Ukrainern gelang es, die Russen so lange hinzuhalten, bis Verstärkung nachrückte. Die Hauptverteidigungslinie befindet sich hier südlich des Zentrums am Südufer des Flusses. Die Russen benötigten in diesem Gebiet eine Woche, um nur 3,5 Kilometer vorzurücken.
Eine Einnahme von Wowtschansk scheint für die Russen in weiter Ferne zu liegen, obwohl sie unbegrenzte Luftunterstützung durch Gleitbomben haben. Gleitbomben funktionieren allerdings nur bei festen Zielen. Militärexperten zufolge bleiben die ukrainischen Kämpfer mobil und bedrängen die Angreifer.
Die Ukraine ist allerdings nach wie vor mit einem Problem konfrontiert: Für seine Waffenlieferungen hat der Westen die Bedingung gestellt, dass die Ukraine mit westlichen Waffen nicht direkt russisches Territorium angreift. Dies erschwert die Unterbindung von russischen Nachschublieferungen hinter der Grenze, während Russland fortwährend die Ukraine von russischem Hoheitsgebiet aus attackiert.
US-Außenminister Anthony Blinken hat bei seinem jüngsten Aufenthalt in Kiew ein Lockerung dieser Regelung angedeutet, indem er sagte, die USA würde die Ukrainer nicht daran hindern, das Nötige zu tun. „Es ist die Entscheidung der Ukraine, wie sie den Krieg führt“, betonte Blinken. Ein Sprecher des US-Außenministeriums sagte dann allerdings auf Nachfrage, die Position der Vereinigten Staaten habe sich nicht geändert.
Trotz allem scheint sich das Blatt zugunsten der Ukraine zu wenden. So gibt es etwa Anzeichen dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte die Munition erhalten, die sie bitter benötigen. Militärexperten waren bereits in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass die Ukraine zurückerobertes Gebiet aufgibt, um Munition angesichts knapper Ressourcen zu sparen und auf strategisch günstigere Momente zu warten.
Die russische Armee war zuletzt rund acht Kilometer in ukrainisches Gebiet vorgerückt, konnte nun aber aufgehalten werden. Bisher kamen die Russen leicht voran. Dies lag allerdings vor allem daran, dass sich die von ihnen attackierten Dörfer meist vor den eigentlichen ukrainischen Verteidigungslinien befanden.
Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Noch sind die Pläne Russlands dort unklar. Ist die Offensive nur ein Ablenkungsmanöver, um ukrainische Truppen anderswo abzuziehen? Oder schaut das russische Kommando zunächst, welchen Erfolg die Angriffe überhaupt haben?
Insgesamt sollen im Grenzgebiet 31.000 bis 35.000 russische Truppen versammelt sein, schreibt die Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau. Nach Einschätzung des ukrainischen Militärexperten Oleksiy Melnyk sind das aber viel zu geringe Kräfte, um Charkiw einzuschließen oder gar zu stürmen. Wie das russische Oppositionsportal Waschnije Istorii berichtet, würde ein Angriff auf Charkiw mindestens 100.000 Soldaten benötigen.
Dafür müsste Moskau eine neue Teilmobilisierung beschließen. Russlands neuer Verteidigungsminister Andrej Beloussow hat dies allerdings bereits ausgeschlossen.