Exodus Zehntausender von Berg-Karabach nach Armenien

Schon über 50.000 Karabach-Armenier geflohen

Mittwoch, 27. September 2023 | 18:22 Uhr

Von: APA/Reuters/AFP/dpa

Seit der Militäroffensive Aserbaidschans in der Vorwoche sind nach neusten Angaben der armenischen Regierung 50.000 ethnische Armenier – und damit bald die Hälfte der Einwohner – aus der Region Berg-Karabach geflohen. Aserbaidschan hatte am Sonntag nach Monaten die einzige Straße aus Berg-Karabach nach Armenien geöffnet. Baku hat nach eigenen Angaben bei der jüngsten Militäroffensive gegen die Separatisten Berg-Karabachs 192 Soldaten verloren.

Die Straßen, die sich in Serpentinen von Berg-Karabach nach Armenien schlängeln, sind voller Menschen. Viele verbringen die Nächte entlang des sogenannten Latschin-Korridors in ihren Autos und in Bussen. Andere suchen am Straßenrand Holz, um ein Feuer zu machen und sich aufzuwärmen. “Ich habe alles zurückgelassen. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Ich habe nichts”, sagte Vera Petrosjan, eine 70-jährige pensionierte Lehrerin.

Die meisten Vertriebenen Karabach-Armenier treffen in der armenischen Stadt Goris ein, der ersten Anlaufstelle hinter der Grenze. In der 20.000-Einwohnerstadt bildeten sich lange Schlagen vor Geschäften mit Telefonkarten. Unter den Flüchtlingen befanden sich vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen.

In Goris bereiten sich Teams von Ärzte ohne Grenzen darauf vor, Geflüchtete psychologisch zu betreuen, und sind bereit, die Hilfe anzupassen, wenn mehr Menschen kommen und sich der Bedarf ändert. “Die Menschen in dieser Region waren neun Monate lang isoliert und von lebenswichtigen Gütern, Nahrungsmitteln sowie medizinischer und humanitärer Hilfe abgeschnitten”, erklärte Franking Frias, Einsatzleiter in Armenien, in einer Aussendung. “Sie saßen inmitten von Bombardements und Schüssen in der Falle und waren gezwungen, eine herzzerreißende Entscheidung zu treffen: entweder ihr Leben zu riskieren und zu Hause zu bleiben oder auf der Suche nach Sicherheit alles zurückzulassen.” Der Latschin-Korridor war seit Dezember 2022 blockiert. Das führte zu einem gravierenden Mangel an lebenswichtigen Gütern wie Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und anderen lebensnotwendigen Gütern. “Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen, die das Gebiet verlassen wollen, eine sichere Ausreise aus Bergkarabach ermöglicht wird”, so Frias.

Die armenische Regierung hat versprochen, allen Flüchtlingen eine Unterkunft zu besorgen. In der Ortschaft Kornidsor sei ein Auffanglager eingerichtet worden, teilte die Pressesekretärin des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan, Naseli Bagdasarjan, mit.

Das ebenfalls an Ort und Stelle im Flüchtlingseinsatz befindliche Österreichische Rote Kreuz hat das Armenische Rote Kreuz in einem ersten Schritt mit 30.000 Euro Soforthilfe für Grundversorgung und Bargeldhilfe unterstützt. Laut Einsatzleiter Jürgen Högl geht es zunächst um die Registrierung und psychosoziale Betreuung, Erste Hilfe und Familienzusammenführungen.

Wie der aserbaidschanische Grenzschutz mitteilte, ist ein Ex-Angehöriger der separatistischen Führung von Berg-Karabach auf dem Weg nach Armenien festgenommen worden. Der frühere “Staatsminister” Ruben Wardanjan sei festgesetzt, worden als er die Region verlassen wollte, hieß es. Wardanjan, ein Milliardär und Investmentbanker, war von November 2022 bis Februar 2023 Teil der Führung Berg-Karabachs (“Republik Arzach”) gewesen. Er sei in die Hauptstadt Baku gebracht worden, wo die Behörden über das weitere Vorgehen entschieden, so der Grenzschutz der staatlichen Nachrichtenagentur Azertac zufolge. In der Mitteilung des Grenzschutzes wird Wardanjan die illegale Einreise nach Aserbaidschan vorgeworfen. Ob es weitere Anschuldigungen gegen den 55-Jährigen gibt, ist unbekannt. Wie die Nachrichtenagentur AFP aus aserbaidschanischen Regierungskreisen erfuhr, suchen Grenzbeamte nach Verdächtigen, die für “Kriegsverbrechen” verantwortlich gemacht werden und die strafrechtlich verfolgt werden müssten.

In Berg-Karabach, das international als Teil Aserbaidschans anerkannt wird, lebten bisher knapp 120.000 ethnische Armenier, sie stellten so gut wie die gesamte Bevölkerung dar. Seit Jahrzehnten war die Region zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien umstritten. Nach einem Krieg Anfang der 90er Jahre hatten die Armenier die Kontrolle. Ein auf dem Boden Berg-Karabachs ausgerufener, eigener Staat wurde international nicht anerkannt. Nach einem weiteren Krieg 2020 hatte Aserbaidschan Teile Berg-Karabachs und besetzte aserbaidschanische Gebiete zurückerobert. Jerewan wirft Baku vor, nun eine “ethnische Säuberung” zu planen, nachdem Aserbaidschan dort vergangene Woche eine großangelegte Militäroffensive gestartet hatte.

Nach der Militäroffensive Aserbaidschans am 19. September mussten die pro-armenischen Kämpfer von Berg-Karabach bereits einen Tag später eine Waffenstillstandsvereinbarung akzeptieren. Russland als traditionelle Schutzmacht Armeniens hatte die Aserbaidschaner bei ihrer Militäroffensive gewähren lassen. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan machte Moskau deshalb bittere Vorwürfe. Russland warf Jerewan wiederum vor, mit seiner jüngsten Hinwendung zum Westen einen “großen Fehler” zu begehen.

Am Dienstag kamen Vertreter Armeniens und Aserbaidschans auf Initiative der EU in Brüssel zusammen. Die Gespräche zwischen den nationalen Sicherheitsberatern der verfeindeten Länder im Beisein von Vertretern der EU-Schwergewichte Frankreich und Deutschland standen unter der Schirmherrschaft von EU-Ratspräsident Charles Michel.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forderte am Mittwoch Aserbaidschan auf, internationale Beobachter in die Region Berg-Karabach zu lassen. “Es wäre ein Vertrauensbeweis, dass es Aserbaidschan mit seinen Zusagen für die Sicherheit und das Wohl der Menschen in Berg-Karabach ernst meint, wenn es internationale Beobachter zuließe”, sagte Baerbock”, so Baerbock laut einer Mitteilung. US-Außenminister Antony Blinken hatte den autokratischen Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Aliyev, in einem Telefonat am Dienstag ebenfalls dazu aufgefordert, eine internationale Beobachtermission zuzulassen. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte im Anschluss, dass Aliyev eine Mission akzeptieren würde. Die USA erwarteten, dass er sich daran sowie an die Zusage halte, keine weiteren militärischen Maßnahmen zu ergreifen. Blinken appellierte den Angaben nach an Aliyev, humanitärer Hilfe ungehindert Zugang zu gewähren, die Sicherheit der Karabach-Bewohner zu gewährleisten und ihre Rechte zu schützen.

Bei der Militäroffensive Aserbaidschans wurden nach Angaben aus Baku vom Mittwoch 192 aserbaidschanische Soldaten und ein Zivilist getötet. Mehr als 500 weitere aserbaidschanische Soldaten seien zudem verletzt worden, erklärte das Gesundheitsministerium. Die pro-armenische Seite hatte 213 Tote der Kämpfe vermeldet. Somit wurden bei der Militäroffensive insgesamt mehr als 400 Menschen getötet.

(S E R V I C E – Ärzte ohne Grenzen und das Rote Kreuz bitten um Spenden: www.aerzte-ohne-grenzen.at ; www.roteskreuz.at/armenien-aserbaidschan)