Russenflieger explodiert - VIDEO

Selenskyj fordert internationale Untersuchung zum Il-76-Absturz

Donnerstag, 25. Januar 2024 | 08:24 Uhr
Update

Von: APA/dpa/Reuters/TASS

Kiew/Belgorod – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert eine internationale Untersuchung zum Absturz des russischen Militärflugzeugs Il-76 am Mittwoch. Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR versuche derzeit mehr über das Schicksal der Dutzenden ukrainischen Kriegsgefangenen zu erfahren, die laut Moskauer Angaben an Bord der Maschine gewesen sein sollen, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Ansprache am Mittwoch.

Er habe zudem den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba angewiesen, ausländische Partner mit allen Informationen zu versorgen, die der Ukraine zur Verfügung stünden. “Unser Staat wird auf eine internationale Aufklärung bestehen”, betonte er. Selenskyj sagte außerdem: “Es ist offensichtlich, dass die Russen mit dem Leben von ukrainischen Gefangenen, mit den Gefühlen ihrer Angehörigen und mit den Emotionen unserer Gesellschaft spielen.”

Nach der Explosion im Gebiet Belgorod hat Russland die Namen des getöteten Piloten und weiterer fünf Besatzungsmitglieder veröffentlicht. “Das ist für alle ein nicht wieder gutzumachender Verlust. Unser Beileid gilt den Familien und Freunden der Helden”, erklärten die Behörden der Region Orenburg.

Russischen Angaben zufolge waren insgesamt 74 Menschen an Bord – darunter laut dem Verteidigungsministerium in Moskau auch 65 ukrainische Kriegsgefangene. Allerdings sind viele Fragen offen. Wie berichtet, wurden von ukrainischer Seite erhebliche Zweifel an der Darstellung Russlands angemeldet.

Wie die russische Nachrichtenagentur TASS berichtete, seien die ukrainische Kriegsgefangene zu einem geplanten Austausch geflogen worden. Ganz anders klang die ukrainische Seite: Die Zeitung „Ukrainska Pravda“ berief sich auf Militärquellen aus Kiew und berichtete, dass die Ukraine das Flugzeug abgeschossen habe. Das Flugzeug habe neben der Besatzung auch Raketen für das S-300-Luftverteidigungssystem transportiert, die zuletzt unter anderem bei Attacken auf Charkiw verwendet worden seien. Eine offizielle Bestätigung vom ukrainischen Verteidigungsministerium stand vorerst allerdings aus.

Auch die Sicherheitsexpertin Claudia Major warnte vor voreiligen Schlüssen. Es seien derzeit zwei Fakten bekannt, sagte die Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) am Donnerstag im ZDF-“Morgenmagazin”. “Das Flugzeug ist abgeschossen worden. Und es war ein Gefangenenaustausch geplant, der nicht stattgefunden hat.” Dies seien derzeit “die einzigen verlässlichen Informationen”. Alles andere wie etwa Listen zum Gefangenenaustausch sei bisher “Spekulation”. Daher sei auch die Forderung Selenskyjs nach einer internationalen Untersuchung zur genauen Absturzursache richtig.

Ein Video, das in den sozialen Netzwerken kursiert, soll den Absturz zeigen: Dabei sieht man, wie das Flugzeug zu Boden rast und in einem großen Feuerball aufgeht.

Mehrere Punkte in der russischen Darstellung machen allerdings stutzig: Die Namen von 17 Personen, die Russland zu den vermeintlichen 65 getöteten Kriegsgefangenen durch die Explosion zählt, stimmen mit jenen von Kriegsgefangenen überein, die bereits in der Vergangenheit im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zurück in die Ukraine kamen.

An Bord der Maschine hätten sich neben 65 ukrainischen Kriegsgefangenen sechs Besatzungsmitglieder und drei Begleitpersonen befunden, berichtete RIA Nowowsti unter Berufung auf das russische Verteidigungsministerium. Beobachtern zufolge ist für so eine große Gruppe an Kriegsgefangenen die von Russland offiziell angegebene Zahl an Begleitern allerdings zu klein und widerspricht den Statuten.

Belgorod ist außerdem zu weit vom einzig funktionierenden Korridor für einen Austausch von Gefangenen entfernt. Das Flugzeug vom Typ Iljuschin ist in der Vergangenheit auch noch nie für einen Transport von Kriegsgefangenen genutzt worden.

Das russische Verteidigungsministerium warf Kiew den Abschuss des Flugzeugs vor und sprach von einem “Terrorakt”. Gleichzeitig brachte Russland sofort auch westliche Waffenlieferung ins Spiel. Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin erklärt, die vom Westen an Kiew gelieferten Waffen seien für den Absturz verantwortlich. “Sie haben unsere Piloten, die eine humanitäre Mission (…) ausführten, mit amerikanischen und deutschen Raketen abgeschossen”, sagte Wolodin. Die Iljuschin sei “von drei Raketen eines in Deutschland hergestellten Patriot- oder Iris-T-Flugabwehrsystems abgeschossen” worden.

Mit westlichen Waffen schaffen es die Ukrainer, sich erfolgreich seit Beginn des russischen Überfalls auf ihr Land am 24. Februar 2022 zur Wehr zu setzen. Zweifellos sind die Waffenlieferungen des Westens Russland ein Dorn im Auge. Offenbar wird die Meldung genutzt, um diese Lieferungen weiter in Misskredit zu bringen. Manche Experten vermuten auch eine Falle, die der russische Geheimdienst den Ukrainern gestellt hat, sollten sich Kriegsgefangene tatsächlich an Bord der Maschine befunden haben.

Nach Angaben des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) instrumentalisiert die russische Führung den Vorfall außerdem, um in der ukrainischen Gesellschaft Misstrauen gegen die Regierung in Kiew zu säen. Besonders die Frage des Austausches von Kriegsgefangenen gelte für Ukrainer und Russen gleichermaßen als sensibles Thema, das Emotionen auslöse.

Nur fünf Leichen

Dass sich Raketen und Kriegsgefangene im selben Flugzeug befanden, gilt als extrem unwahrscheinlich. Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, wäre dies ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen, da Geiseln als “Schutzschild” für Waffentransporte missbraucht worden wären. Auf ersten Fotos und Videos nach dem Absturz scheint es keine Anzeichen für eine derart hohe Anzahl an Todesopfern zu geben. Russischen Telegram-Kanälen zufolge seien lediglich zwei verkohlte Leichen an der Absturzstelle sichergestellt worden.

Wie die Online-Zeitung Kyiv Independent unter Berufung auf den ukrainischen Militärgeheimdienst HUR meldete, sollten ursprünglich hochrangige russische Militärs und Beamte an Bord des Flugzeugs sein. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB soll den Beamten allerdings “im letzten Moment” untersagt haben, an Bord zu gehen. Einem HUR-Sprecher zufolge erhielt der ukrainische Dienst diese Information erst nach dem Absturz des Flugzeuges. Nach dem Vorfall soll der FSB den örtlichen Rettungskräften nicht gestattet haben, die Absturzstelle gemäß Protokoll zu inspizieren. Nach dem Absturz seien lediglich fünf Leichen in die örtliche Leichenhalle in Belgorod gebracht worden, erklärte der Sprecher.

Auch der ukrainische Geheimdienst SBU hat Ermittlungen eingeleitet. Der SBU habe “eine strafrechtliche Untersuchung des Abschusses eines IL-76-Flugzeugs der russischen Luftwaffe in der Region Belgorod eingeleitet”, hieß es in einer Erklärung des Geheimdiensts am Donnerstag.