Von: APA/dpa/Reuters
Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat das Zerschlagen der jüngsten russischen Offensive im Osten des Landes zur “Aufgabe Nummer eins” erklärt. “Das Erfüllen dieser Aufgabe hängt von jedem Soldaten, jedem Unteroffizier und jedem Offizier ab”, sagte Selenskyj am Samstag in seiner abendlichen Videoansprache. Russische Truppen waren am Freitag über die Landesgrenze hinweg zu einer breit angelegten Offensive mit Richtung zur ostukrainischen Millionenstadt Charkiw angetreten.
“Unsere Truppen führen dort seit zwei Tagen Gegenangriffe durch, um ukrainisches Territorium zu verteidigen”, beschrieb Selenskyj die Lage. Die ukrainische Militärführung habe bereits Verstärkungen in Richtung Charkiw in Marsch gesetzt. “Das Zerschlagen der russischen Offensivpläne ist jetzt die Aufgabe Nummer eins”, gab Selenskyj die Devise für die nächsten Tage und Wochen aus. Es gehe um die Zerstörung russischer Ausrüstung und die “Neutralisierung” der russischen Besatzer. “Der Besatzer muss spüren, dass es für ihn nirgendwo in der Ukraine leicht sein wird.”
Die Ukraine wehrt seit mehr als zwei Jahren eine russische Invasion ab. Um den jüngsten Großangriff erfolgreich abzuschlagen, benötigt das Land nach Angaben von Selenskyj weitere Unterstützung aus dem Ausland. “Im Moment sind jedes gelieferte Flugabwehrsystem und jede Rakete ein Beitrag, der Leben rettet und unsere Städte und Gemeinden am Leben erhält, schrieb er am Samstag auf Facebook. “Was wirklich hilft, sind tatsächlich an die Ukraine gelieferte Waffen, nicht nur die Ankündigung solcher Waffenpakete.”
In den russischen Grenzprovinzen Belgorod und Kursk und in der russisch besetzten Stadt Donezk kamen zuletzt nach Behördenangaben fünf Menschen bei ukrainischen Drohnen- und Artillerieangriffen ums Leben. In Donezk seien drei Menschen getötet und acht verletzt worden, als eine Rakete ein Restaurant getroffen habe, erklärte der von Russland eingesetzte Verwaltungschef der besetzten Region, Denis Puschilin. Unterdessen wüteten die Kämpfe in der Region Charkiw weiter.
“Derzeit drängt der Feind weiter in den Norden unserer Region. Unsere Streitkräfte haben neun Angriffe zurückgeschlagen”, sagte der Gouverneur der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine, Oleh Synjehubow. In fünf umkämpften Dörfern nahe der russischen Grenze gebe es weiter Gefechte.
Zuvor hatten die russischen Streitkräfte nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau mitgeteilt, die Dörfer Pleteniwka, Ohirzewe, Boryssiwka, Pylna und Striletschna, die alle direkt an der Grenze zur russischen Oblast Belgorod liegen, unter Kontrolle zu haben. Dagegen erklärte der Gouverneur von Charkiw, Oleh Synjehubow, fünf Dörfer nahe der russischen Grenze seien weiterhin umkämpft. Ukrainische Soldaten hätten Angriffe zurückgeschlagen. Für die Bewohner der Provinzhauptstadt Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, bestehe keine unmittelbare Gefahr durch die Bodenoffensive.Am Freitag hatte Russland eine Offensive gegen Charkiw gestartet, das im Nordosten der Ukraine liegt.
Ukrainische und russische Militärbeobachter wie auch ausländische Experten gingen aber davon aus, dass der Vorstoß noch nicht auf die Stadt Charkiw abziele. Das Institut für Kriegsstudien ISW in den USA sprach von “begrenzten operativen Zielen”. Die Angriffe sollten die ukrainischen Kräfte von der Grenze abdrängen – durch das Vorrücken solle Charkiw wieder in die Reichweite russischer Rohrartillerie kommen.
Strategisches Ziel sei, die Ukrainer zu zwingen, Soldaten und Material von anderen bedrängten Abschnitten der Front im Osten abzuziehen. Der begrenzte Einsatz lege nicht nahe, “dass russische Kräfte in großem Maßstab eine Offensivoperation durchführen, um Charkiw einzuschließen, einzukreisen oder zu erobern”, schrieb das ISW. Gleich zu Beginn des Angriffskriegs im Frühjahr 2022 waren russische Truppen nach Charkiw eingedrungen, konnten aber abgewehrt werden.
Den Berichten von der Front nach hat der Angriff zwei Stoßrichtungen. An einem Grenzabschnitt etwa 30 Kilometer nördlich von Charkiw besetzten russische Truppen mehrere ukrainische Dörfer. Sie lagen nach übereinstimmenden Angaben in einer Art grauer Zone noch vor der vordersten ukrainischen Verteidigung. Der ukrainische Generalstab nannte das Dorf Lipzy als Stoßrichtung dieses Angriffs.
Der zweite Angriff zielte auf die Stadt Wowtschansk etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw ab. Auch dort wurden mehrere kleine Orte entlang der Grenze besetzt. Im Fall Wowtschansk sehen Experten eher die russische Absicht, Nachschublinien der Ukraine in Richtung Kupjansk zu stören.