Von: mk
Moskau – Der Terroraschlag am Freitagabend in Moskau, bei dem 137 Menschen ums Leben gekommen sind, überschattet weiter das Geschehen in Russland. Während der Sonntag zum nationalen Trauertag ausgerufen wurde, herrschte in der Millionenstadt gedrückte Stimmung. Politisch wirft das Attentat auf Kreml-Despot Wladimir Putin ein ungünstiges Licht, wie Mark Galeotti, Ehrenprofessor am University College in London erklärt.
Bei dem Anschlag hatten Angreifer in Tarnkleidung mit automatischen Waffen das Feuer auf Besucher der Crocus City Hall am Rande von Moskau eröffnet und Feuer in dem Gebäudekomplex mit Benzinkanistern gelegt. Menschen flohen in Panik. Von den rund 150 Verletzten befinden sich viele in kritischem Zustand.
Die Terrormiliz “Islamischer Staat” (IS) hatte den Anschlag bereits in der Nacht auf Samstag für sich reklamiert, doch der russische Präsident Wladimir Putin deutete eine ukrainische Spur hinter dem Angriff an – ohne jedoch Beweise dafür anzuführen. Kiew wies jede Beteiligung zurück.
In vielen russischen Fernsehsendern wird Putins Narrativ zwar weiterverbreitet, indem behauptet wird, die Ukraine stecke hinter dem Anschlag. Trotzdem wächst innenpolitischer Druck auf Putin. „Innerhalb des russischen Sicherheitsapparates herrscht ein tiefes Gefühl der Scham vor, weil so ein Ereignis nicht verhindert werden konnte. Gleichzeitig wächst auch die Verzweiflung über Putin, der den Anschlag als etwas darzustellen versucht, was er nicht ist“, erklärt Galeotti.
Die Geheimdienste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag gewarnt. Putin tat die Warnungen jedoch als westliche Provokation ab.
Laut Galeotti sei Russland ein ähnlich attraktives Ziel für islamistische Terroristen wie die Vereinigten Staaten. Innerhalb Russland würden viele Menschen aus Zentralasien leben, die sich zunehmend radikalisiert hätten. Erst vor wenigen Jahren war es zu einem Bombenanschlag auf die U-Bahn in St. Petersburg gekommen.
„Weil Waffen für die Zivilbevölkerung auf dem russischen Schwarzmarkt leicht zu kriegen sind, lassen sich solche Terroranschläge auf lange Sicht nicht verhindern, wenn sich mehrere Menschen zusammenschließen, um andere zu töten – unabhängig von irgendwelchen Sicherheitsmaßnahmen“, betont Galeotti.
Die vier Hauptverdächtigen des Anschlags waren bereits am Samstagabend zum Verhör in die russische Hauptstadt gebracht worden. Wie Galeotti im Interview mit Times Radio erklärt, ist die Festnahme überraschend schnell erfolgt. Seiner Ansicht nach deute dies daraufhin, dass die Menschen in Russland in einem Polizeistaat leben und entsprechend überwacht werden. „Wenn die verschiedenen Behörden zusammenarbeiten, können in Russland viel mehr Ressourcen als in anderen Staaten mobilisiert werden“, so Galeotti.
Putin sei durch das Attentat laut Galeotti dennoch geschwächt worden. „Bei der Legitimierung seiner Macht stützt sich Putin auf zwei Pfeiler: Einmal stellt er sich als großer Versorger dar, unter dessen Obhut die Lebensqualität in Russland zugenommen hat. Gleichzeitig inszeniert er sich auch als starker Beschützer des Landes“, erklärt Galeotti.
Die Realität sieht in Wahrheit allerdings oft anders aus. Während zunehmend mehr Bürger finanziell unter Druck geraten sind, blieb Putin lediglich seine Inszenierung als starker Mann. Doch weil so viele Menschen ums Leben kamen, wackelt laut Galeotti nun auch dieses Image. Das habe in der Gesellschaft Bestürzung hervorgerufen, die sich unter anderen auch in sozialen Netzwerken Bahn breche. Das Vertrauen der Bevölkerung in Putin sei gesunken.
Trotzdem glaubt Galeotti nicht, dass es in der nahen Zukunft zu einer Revolte und zu einem Umsturz innerhalb der russischen Gesellschaft kommt. Stattdessen erodiere Putins Macht auf langsame Weise, indem er nach und nach die Loyalität und den Zuspruch der Bevölkerung verliere. Kommt es doch irgendwann zu Unruhen, werde Putin seinen Apparat nutzen und diese vermutlich mit Gewalt und Einschüchterung unterdrücken, rechnet Galeotti.
Putin steht nun unter Zugzwang: Einerseits verschärft er die Attacken auf die Ukraine. Andererseits wird sich sein Augenmerk auf Arbeiter aus Zentralasien richten, von denen es Millionen in Russland gibt. „Damit kann er zeigen, dass er hart durchgreift. Das Problem ist nur: Die russische Wirtschaft ist von diesen Arbeitern stark abhängig“, erklärt Galeotti. Er vermutet, dass Putin wirtschaftliche Nachteile in Kauf nimmt, um den Schein zu wahren.