Brände und Gebäudeschäden in Charkiw nach Drohnenangriff

Tote bei Raketeneinschlag in russisch besetztem Gebiet

Freitag, 03. November 2023 | 22:07 Uhr

Von: APA/dpa/Reuters

Im russisch besetzten Teil des südukrainischen Gebiets Cherson sind mehrere Menschen Opfer eines Raketeneinschlags geworden. Russische Staatsmedien meldeten am Freitagabend unter Berufung auf die lokalen Besatzungsbehörden mindestens neun Tote und neun Verletzte. Zuvor war von mindestens sieben Toten die Rede gewesen. Bilder zeigten ein stark zerstörtes Gebäude des örtlichen Arbeitsamts.

Den Angaben nach soll die Ukraine sechs Raketen abgefeuert haben, von denen vier abgefangen werden konnten. Die Informationen konnten nicht unabhängig überprüft werden. Der betroffene Ort Tschaplynka befindet sich gut 50 Kilometer hinter der Frontlinie. Die Siedlung mit knapp 10.000 Einwohnern wurde sofort nach dem Beginn der russischen Invasion vor mehr als 20 Monaten besetzt.

Zuvor waren bei den russischen Angriffen im Nordosten des Landes zivile Ziele in der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw angegriffen worden, teilte der Gouverneur der gleichnamigen Region, Oleh Synehubow, auf Telegram mit.

“Wir sind uns bewusst, dass die russischen Terroristen mit dem nahenden Winter versuchen werden, mehr Schaden anzurichten”, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu den Angriffen. “Wir werden auf den Feind reagieren.” Die Luftverteidigung sei in zehn Regionen aktiv gewesen. “Leider gab es auch Einschläge. Nach vorläufigen Angaben ohne Opfer”, teilte der Staatschef am Freitag in sozialen Netzwerken mit.

Die Ukraine wappnet sich für einen zweiten Kriegswinter mit russischen Angriffen auf die Energieversorgung. Es gibt Warnungen, dass die Ukraine verletzlicher sei, da es weniger Überkapazitäten und kaum Ersatzteile gebe. Im vergangenen Winter hatte die Regierung nach zahlreichen Angriffen auf Kraftwerke zeitweise landesweite Beschränkungen für die Stromnutzung verhängt.

Die ukrainische Luftwaffe schoss nach eigenen Angaben 24 der 40 von Russland gestarteten “Shahed”-Drohnen ab. Der Drohnenangriff habe sich gegen Charkiw im Nordosten, Odessa und Cherson im Süden und die Region Lwiw (Lemberg) an der ukrainischen Grenze zu Polen im Westen gerichtet. Auch eine X-59-Rakete sei abgeschossen worden.

In der Region Lwiw sei eine Infrastruktureinrichtung fünf Mal getroffen worden, erklärte der Gouverneur von Lwiw, Maxym Kosyzkyj. Details zu den Schäden nannte er nicht. In der nahe gelegenen Region Iwano-Frankiwsk sei eine Militäreinrichtung getroffen worden, erklärte Gouverneurin Switlana Onischtschuk.

Im Süden des Landes wurde nach Angaben des Gouverneurs der Region Odessa, Oleh Kiper, eine Infrastruktureinrichtung getroffen.

Bei dem Angriff auf Charkiw seien acht Privathäuser, ein dreistöckiges Gebäude, mehrere Autos und eine Autowerkstatt beschädigt worden, erklärte Innenminister Ihor Klymenko. Drohnen hätten zivile Infrastrukturen getroffen und Brände in und nahe der Stadt Charkiw verursacht, teilte Gouverneur Synehubow mit. Acht Menschen, darunter zwei Kinder, hätten aufgrund von akutem Stress ärztliche Hilfe benötigt.

Die ostukrainische Industriestadt Awdijiwka im Gebiet Donezk ist weiter von einer kompletten Einschließung durch russische Truppen bedroht. Knapp ein Dutzend russische Angriffe seien von der ukrainischen Armee im Bereich der Stadt abgewehrt worden, teilte der Generalstab in Kiew mit. Erfolglose Angriffe der Russen mit Luftunterstützung habe es beim Dorf Stepowe nordwestlich der Stadt und den Orten Tonenke, Sjewerne und Perwomajske westlich Awdijiwkas gegeben.

Der offiziellen Darstellung widersprach allerdings der gut beim Militär vernetzte Journalist Jurij Butussow auf der Plattform Telegram. Ihm zufolge sind russische Einheiten über einen Eisenbahndamm in Richtung Stepowe erfolgreich vorgestoßen und setzen sich dort fest. Damit sei die naheliegende stadtprägende Koksfabrik akut bedroht. Im Falle einer Eroberung der Kokerei rücke eine Eroberung Awdijiwkas in den Bereich des Möglichen. Gleichzeitig seien russische Truppen auch südwestlich der Stadt vorangekommen.

Insbesondere kritisierte Butussow den angeblich fehlenden Ausbau von Verteidigungsstellungen im rückwärtigen Raum. Anstatt Fotoaufnahmen in Awdijiwka zu machen, hätte Präsident Wolodymyr Selenskyj sich eher den Stand des Ausbaus von Verteidigungsanlagen ansehen sollen, schrieb er. Selenskyj hatte die Frontstadt Mitte April 2023 besucht.

Nach Einschätzung britischer Militärexperten kommen beide Seiten mit ihren Offensiven kaum voran. Das ging am Freitag aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London hervor. Der ukrainische Vorstoß im Süden sei “relativ statisch” zwischen zwei gut vorbereiteten defensiven Positionen der Russen. Gleichzeitig sei der groß angelegte Angriff der Russen bei dem Ort Awdijiwka in der östlichen Region Donbass angesichts starker ukrainischer Abwehr zum Erliegen gekommen.

“Ein Hauptfaktor bei diesem Phänomen ist höchstwahrscheinlich die relative Ausschaltung taktischer Luftüberlegenheit: Beide Seiten haben weiterhin erhebliche Luftabwehrkapazitäten, die Kampfjets daran hindern, effektive Luftunterstützung für Angriffe zu liefern”, hieß es in der Mitteilung weiter. Vor allem seien auch die geografischen Verhältnisse von Bedeutung, da angesichts einer zu schützenden Frontlinie von 1.200 Kilometern auf beiden Seiten kaum Truppen für einen Durchbruch zur Verfügung stünden.

Die Ukraine wehrt seit über 20 Monaten eine russische Invasion ab. Nahe Awdijiwka verlief bereits seit 2014 die Frontlinie zu den von Moskau unterstützten Separatisten. Aktuell ist die stark zerstörte Stadt bereits von drei Seiten von russischen Truppen umgeben. Die russisch kontrollierte Gebietshauptstadt Donezk liegt nur wenige Kilometer südlich von Awdijiwka entfernt.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warb unterdessen in Deutschland inmitten der internationalen Aufmerksamkeit für den Krieg im Nahen Osten um weitere Unterstützung für sein Land. “Glauben Sie an uns, unterstützen Sie unseren Kampf. Und unser Sieg wird auch Ihr Sieg sein”, appellierte Kuleba am Freitag bei einem Besuch im ZDF-Morgenmagazin. Zugleich machte der Außenminister deutlich, dass zwar die mediale Aufmerksamkeit für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zurückgegangen, die politische Unterstützung der Partner im Westen aber anhaltend hoch sei. Der Westen räume der Hilfe für die Ukraine neben der Solidarität mit Israel weiter “Priorität” ein.

Kuleba verneinte im ZDF-Interview die Frage, ob es hinter verschlossenen Türen zwischen Moskau und Kiew Verhandlungen über eine Beendigung des Konflikts gebe. Mit Blick auf die “Friedensformel” des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bekräftigte er Forderungen nach einem Abzug russischer Truppen aus dem Land vor dem Beginn möglicher Verhandlungen.

Ob wie vorgesehen im kommenden Frühling die ukrainische Präsidentschaftswahl stattfinden wird, lässt die ukrainische Führung offen. Darüber sei noch keine Entscheidung gefallen, erklärte Kuleba. Präsident Selenskyj ziehe dies in Betracht “und wägt die verschiedenen Pro und Kontras ab”. Kuleba gibt zu bedenken, dass das Abhalten von Wahlen während des Krieges mit Russland beispiellose Herausforderungen mit sich bringen würde.