Außenminister Schallenberg vertritt in Tirana den Kanzler

Treffen von Westbalkan- und EU-Regierungschefs in Tirana

Montag, 16. Oktober 2023 | 18:01 Uhr

Von: apa

Die Staats- und Regierungschefs des Berliner Prozesses haben Montag in der albanischen Hauptstadt Tirana ihren jährlichen Gipfel abgehalten. Der Berliner Prozess wurde 2014 ins Leben gerufen, um die regionale Zusammenarbeit der sechs Westbalkan-Staaten, welche eine EU-Mitgliedschaft anstreben, zu fördern. Österreich war durch Außenminister Alexander Schallenberg vertreten, der statt Bundeskanzler Karl Nehammer (beide ÖVP) anreiste.

Die sechs EU-Bewerber auf dem Westbalkan sind Albanien, Bosnien-Herzegowina, der Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Seitens der EU-Länder federführend beim Berliner Prozess sind Deutschland, Österreich, das für Schallenberg die “Speerspitze” für eine rasche Westbalkan-Erweiterung bildet, Frankreich, Italien, Bulgarien, Griechenland, Polen und Slowenien. Mit an Bord sind außerdem etwa die EU-Kommission und internationale Finanzinstitute, denn der Berliner Prozess fördert – unabhängig vom regulären Stabilisierungs- und Beitrittsprozess – konkrete Regionalprojekte, beispielsweise im Verkehrs- und Energiebereich.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz verwies bei seinem Eintreffen in Tirana auf den EU-Gipfel von Thessaloniki im Jahr 2003, auf dem den sechs Westbalkan-Ländern eine EU-Beitrittsperspektive zugesagt wurde. 20 Jahre danach sei für ihn “ganz, ganz klar, dass es bald mal so weit sein muss”, dass die Länder auch tatsächlich in die Union aufgenommen werden. Einen genauen zeitlichen Horizont nannte Scholz freilich nicht. Wegen Unstimmigkeiten unter den EU-Staaten hatte das bisher kursierende Zieldatum 2030 vor zehn Tagen auch in der Abschlusserklärung des informellen EU-Gipfels von Granada gefehlt.

Laut der EU-Kommission wollten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen in Tirana auch über einen neuen Wachstumsplan für den Westbalkan diskutieren, den die Kommission derzeit vorbereitet. Er zielt darauf ab, den Bürgern und Firmen der sechs Länder im Sinne einer “stufenweisen Integration” schon vor der offiziellen Aufnahme in die EU bestimmte Vorteile der Mitgliedschaft, darunter den EU-Binnenmarkt, zu bieten. Dazu müssten die sechs Länder aber auch alle untereinander einen Binnenmarkt bilden und gegenseitige Zugänglichkeit gewähren, betonte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und mahnte: “Wer (in diesem Punkt) blockiert, blockiert sich selbst.”

Der Wachstumsplan soll laut Jose Manuel Albares, Außenminister des derzeit den EU-Ratsvorsitz ausübenden Spanien, “in wenigen Wochen” fertig sein. Er soll als Ergänzung eines 2020 gestarteten 30-Milliarden-Euro-Wirtschafts- und Investitionsplans der EU dienen. Bis dato wurden 16 der 30 Milliarden Euro an Investitionen für Vorzeigeprojekte mobilisiert. Von der Leyen versprach den Westbalkan-Ländern in Tirana “Funding und Investitionen” nach Maßgabe durchgeführter Reformen. Das Treffen in Tirana sei jedenfalls ein starkes Zeichen der EU pro Erweiterung.

Auch der albanische Premier Edi Rama als Gastgeber plädierte in seiner Eröffnungsansprache dafür, den Beitrittskandidaten schon vor dem Beitritt “bestimmte Vorteile eines Mitglieds zu gewähren”. Er sprach auch von einem “Beobachterstatus” für angehende Mitgliedstaaten. Es war das erste Mal, dass der jährliche Gipfel des maßgeblich von Deutschland initiierten Berliner Prozesses in einem der Kandidatenländer stattfand.

Auch Schallenberg wandte sich gegen ein “binäres Denken von drinnen oder draußen” in Sachen EU. Versprochenes Ziel sei die Mitgliedschaft, betonte er. Auf dem Weg dorthin könne es aber volle Einbindung in einzelne EU-Agenturen oder bestimmte Politikbereiche wie der Forschung geben. Außerdem will Schallenberg mit den Westbalkan-Staaten zum gegenseitigen besseren Verständnis nicht nur über deren EU-Integration sprechen, sondern sich auch über weltpolitische Themen wie Russland oder den Nahost-Konflikt austauschen. Die EU-Erweiterung müsse als geostrategisches Interesse betrachtet werden, nicht als bürokratisches Projekt, strich er hervor. Für alle sechs Bewerber gibt es aus Sicht des Außenministers im Grunde keine alternative Orientierung und Block-Zugehörigkeit als die EU.

Zu den Gipfelteilnehmern am Montag in Tirana gehörte u. a. auch der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez, EU-Ratspräsident Charles Michel, EU-Erweiterungskommissar Olivér Varhélyi und seitens der Westbalkan-Sechs Premier Dritan Abazović aus Montenegro sowie Premier Albin Kurti aus dem Kosovo. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić schickte seine Ministerpräsidentin Ana Brnabić. Der französische Präsident Emmanuel Macron, von dem es geheißen hatte, er nehme am Gipfel teil, wurde nunmehr erst später am Montag zu einem bilateralen Besuch in Albanien erwartet. Frankreich und die Niederlande gelten als Bremser bei der EU-Erweiterung. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte war im Gegensatz zu Macron sehr wohl dabei und beklatschte, gemeinsam mit zum Familienfoto angetretenen Kollegen überraschend eingeschobene, folkloristische Tänze.

Die erste von zwei Arbeitssitzungen beschäftigte sich mit einem gemeinsamen regionalen Wirtschaftsmarkt und dessen Anbindung an den EU-Binnenmarkt, die zweite Arbeitssitzung sollte sich um Digitalisierung und den “Grünen Wandel” drehen. Beim Arbeitsessen dazwischen ging es um die oft konfliktbeladenen Beziehungen zwischen vielen der Westbalkan-Staaten. Laut der Nachrichtenagentur Reuters könnte es in Tirana möglicherweise am Rande zu einem Treffen von Scholz und Macron mit Vertretern des Kosovo und Serbiens kommen. Die Spannungen zwischen Belgrad und Prishtina waren jüngst wieder eskaliert. Im von Serben dominierten Nordkosovo überfielen Ende September 30 bewaffnete Serben eine Polizeistation. Drei der Angreifer und ein Polizist wurden getötet.

Serbien zog Militär an den Grenzen zum Kosovo zusammen, die NATO stockte ihre Schutztruppe KFOR im Kosovo auf. Vor diesem Hintergrund sei es “wichtig, dass beide Länder in Tirana überhaupt wieder an einem Tisch sitzen werden”, zitierte Reuters einen EU-Diplomaten.”Notwendig ist eine Deeskalation und die Rückkehr zum politischen Prozess sowie die Aufklärung in Bezug auf die Täter und des Waffenschmuggels in Nordkosovo”, mahnte demnach auch ein Sprecher des deutschen Außenministeriums.

Der Kosovo, früher eine serbische Provinz, hatte sich nach dem Kosovo-Krieg 1998/99 und Jahren unter UNO-Verwaltung 2008 für unabhängig erklärt. Serbien akzeptiert das nicht, und auch fünf der 27 EU-Staaten haben den Kosovo bisher nicht als unabhängigen Staat anerkannt. Die Europäische Union setzt voraus, dass der Kosovo und Serbien ihr Verhältnis normalisieren, ehe einer der beiden in die EU aufgenommen wird. Der seit neun Jahren laufende Normalisierungsprozess stockt aber immer wieder. Scholz rief beide Seiten auf zu “deeskalieren”. Von der Leyen mahnte Kooperation ein und drängte zur Rückkehr zum Normalisierungsdialog.

Für Schallenberg ist das Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien “eine Sicherheitsherausforderung und die größte Einzelherausforderung für die Region und darüber hinaus”. Es sei “erschreckend”, dass es wieder Tote gegeben habe und dass einer der Angreifer in Serbien als Held bejubelt worden sei. “Zur Normalisierung und zum Dialog gibt es keine Alternative.” Er sprach sich für “Anreize und Druck” auf beide Seiten aus. Zugleich deutete Schallenberg vorsichtig an, dass das bisherige Dialogformat in Brüssel mit Kurti und Vučić unter Vermittlung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell womöglich überdacht und weiterentwickelt werden sollte.

Dass es noch tiefe Spaltungen in der Region zu überwinden gibt machten die Worte Albin Kurtis deutlich: “Der Kosovo ist nach wie vor von einer Invasion Serbiens bedroht”, erklärte er mit Blick auf jüngste Eskalation vor versammelter Runde.

In Tirana wurde am Montag ein regionales Abkommen unterzeichnet, wonach die Westbalkan-Sechs künftig untereinander Berufsausbildungen anerkennen. Macron, die slowenische Präsidentin Nataša Pirc Musar und der montenegrinische Premier Dritan Abazović sollten laut der slowenischen Nachrichtenagentur STA eine Vereinbarung zur Errichtung eines regionalen Trainingszentrums für Cyber-Security-Experten in Montenegro unterzeichnen.

Der ÖVP-Europa-Abgeordneten Christian Sagartz und Lukas Mandl warnten anlässlich des Gipfels in einer Aussendung: “Wenn wir reformwillige Staaten weiter bei ihrer versprochenen EU-Annäherung hinhalten, dann verlieren wir als Europäische Union an Glaubwürdigkeit und andere geopolitische Kräfte, die nicht unsere gemeinsamen europäischen Werte vertreten, werden am Westbalkan an Bedeutung gewinnen.” In der verschleppten EU-Erweiterung sehen sie “eine Art ständige Einladung an rivalisierende Systeme wie Russland, China oder die Türkei”.