Selenskyj würdigt die pro-westliche Wende in der Ukraine 2013

Ukraine begeht zehnten Jahrestag der pro-westlichen Wende

Dienstag, 21. November 2023 | 14:02 Uhr

Von: APA/Reuters/dpa

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die pro-europäischen Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew vor zehn Jahren als “ersten Sieg” im Krieg gegen Russland bezeichnet. “Der erste Sieg im heutigen Krieg trug sich zu. Ein Sieg über die Gleichgültigkeit. Ein Sieg des Mutes. Ein Sieg der Revolution der Würde”, erklärte Selenskyj am Dienstag anlässlich des Jahrestags der pro-westlichen Protestbewegung. Moskau wertet die Ereignisse von 2013/14 ganz anders.

Am Maidan-Platz im Zentrum Kiews hatten Ende 2013 die pro-europäischen, Monate andauernden Proteste in der Ukraine begonnen. Bei deren Niederschlagung durch die damalige, russlandfreundliche Staatsmacht verloren mehr als hundert Menschen ihre Leben. Die Demonstrationen führten drei Monate später zum Sturz der Regierung des Kreml-treuen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Als Folge besetzte Russland die Schwarzmeer-Halbinsel Krim und annektierte diese wenig später. Dann brachte Moskau unter dem Deckmantel eines ostukrainischen Separatismus Teile der Gebiete Donezk und Luhansk unter Kontrolle. Im Februar 2022 schließlich begann der großangelegte Angriffskrieg, der bis heute andauert.

“Jahr für Jahr, Schritt für Schritt tun wir alles dafür, damit eines Tages im Kreise der Sterne der EU-Flagge auch unser Stern strahlt. Der Stern der Ukraine”, sagte Selenskyj. Aus einem romantischen Traum vor 20 und einem ehrgeizigen Ziel vor zehn Jahren sei heute der reale Kandidatenstatus geworden. Und trotz des Krieges werde die Ukraine unweigerlich ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union werden.

Zusammen mit seiner Ehefrau Olena und der moldauischen Präsidentin Maia Sandu gedachte Selenskyj der getöteten Demonstranten und stellte Windlichter an der Gedenkstätte für die “Helden des Maidan” ab. Auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hielt sich am Dienstag in Kiew auf und legte Blumen an dem Gedenkort ab.

“Die kalten Winternächte des Euromaidan haben Europa für immer verändert”, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Kurznachrichtendienst X zu dem Jahrestag. Die Ukraine strebe seit zehn Jahren mit Würde und Stolz nach Freiheit. Heute sei klarer denn je, dass die Zukunft des Landes in der Europäischen Union liege. Ähnlich äußerte sich EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. “Die Maidan-Revolution hat die Zukunft der Ukraine für immer verändert”, schrieb sie. “Während die Ukraine unsere Werte verteidigt, wird unsere Unterstützung mit jeder von Russland abgefeuerten Rakete stärker.” Die Ukraine verteidige nicht nur ihr eigenes Territorium, sondern auch die EU und europäische Werte. EU-Ratspräsident Charles Michel hielt sich am Dienstag ebenfalls unangekündigt in Kiew auf. Er veröffentlichte auf X ein Foto, das ihn am Bahnhof der ukrainischen Hauptstadt zeigt.

Das russische Präsidialamt bekräftigte zum zehnten Jahrestag erster Massenproteste in Kiew seine Sicht der damaligen Ereignisse: Es habe sich um einen aus dem Ausland unterstützten Putsch gehandelt, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Dies sei es, was die aktuelle pro-westliche Ausrichtung der ukrainischen Regierung erkläre. “Das derzeitige Regime ist absolut toxisch, wir sehen im Moment keine Optionen für eine Koexistenz mit ihm”, sagte der russische Sonderbotschafter Rodion Miroschnik zudem am Dienstag in Moskau zur Haltung gegenüber der derzeitigen ukrainischen Regierung. Die NATO habe der Ukraine Waffen geliefert, der Westen werde aber früher oder später das Interesse an der Ukraine verlieren. Russland könne der Macht der NATO solange standhalten, bis seine Ziele erreicht würden.

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine waren unterdessen auch am Jahrestag Todesopfer zu beklagen: Bei Raketenangriffen auf die östliche Region Donezk wurden nach ukrainischen Angaben am Dienstag zwei Menschen getötet und sechs verletzt. Raketen hätten ein Krankenhaus in der Stadt Selydowe und ein Kohlebergwerk getroffen, teilte Innenminister Ihor Klymenko im Nachrichtendienst Telegram mit. “Zwei Gebäude des Krankenhauses wurden beschädigt, sechs Zivilisten wurden verletzt. Unter den Trümmern könnten sich Opfer befinden, die Suchaktionen gehen weiter”, erklärte Klymenko. Bei dem Angriff auf das Kohlebergwerk sei ein Arbeiter getötet worden. In Charkiw wurde ein Mensch nach Angaben des örtlichen Gouverneurs getötet.

Wie im letzten Winter erwartet Kiew auch für die kommenden Monate Angriffe auf seine Städte sowie die Infrastruktur für die Energie- und Wärmeversorgung des Landes. Nach den russischen Angriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur im vergangenen Winter saßen tausende Menschen lange Zeit in Kälte und Dunkelheit fest. Seitdem hat Kiew mehr Luftabwehrsysteme von seinen westlichen Verbündeten erhalten, auch von Deutschland.

Russische Marineinfanterie hat nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau ein Vordringen ukrainischer Streitkräfte am Ostufer des Flusses Dnipro und auf Inseln an der Flussmündung in der Südukraine gestoppt. Das teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Es veröffentlichte ein Video, in dem Marinesoldaten der 810. Garde-Marineinfanteriebrigade zu sehen sind, wie sie verschiedene Waffen abfeuerten. Der Ausgang der Kämpfe ging aus den Aufnahmen nicht hervor.

Die Versuche der Ukraine zur Errichtung eines Brückenkopfs am russisch besetzten Ufer des Flusses Dnipro im Süden des Landes seien gescheitert. “Kein Versuch der ukrainischen Streitkräfte einer Landeoperation im Raum Cherson hatte Erfolg”, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Sitzung ranghoher Militärs. Die russischen Truppen erlaubten ihren Gegnern keinen Raumgewinn und fügten ihnen “kolossale Verluste” zu. Der 68-Jährige bezifferte die ukrainischen Verluste seit Monatsbeginn auf knapp 14.000 Soldaten. Die Angaben zu den Verlusten sind unabhängig nicht zu überprüfen. Beide Seiten nehmen für sich in Anspruch, der jeweils anderen Kriegspartei hohe personelle und materielle Schäden zuzufügen.

Seit dem Sommer haben ukrainische Einheiten immer wieder über den Dnipro auf das russisch besetzte Südufer übergesetzt. Seit Wochen halten ukrainische Infanteristen dort trotz andauernder Kämpfe Positionen um die Ortschaft Krynky. Medienberichten zufolge gelingt Kiew dabei die Bereitstellung von Nachschub über den Fluss, allerdings bisher nicht die Lieferung von schwerem Gerät und Panzern, die für eine Ausweitung des Brückenkopfs nötig wären. Die potenzielle Gefahr, die von diesen Stellungen für die russischen Truppen in der Südukraine ausgehen, haben aber Militärblogger aus Moskau mehrfach thematisiert.