Gegenoffensive vorerst gescheitert

Ukraine: Experten warnen vor Patt-Situation an der Front

Dienstag, 14. November 2023 | 08:01 Uhr

Von: ka

Kiew – Seit dem Ausbruch des Kriegs im Gazastreifen verliert der seit mehr als eineinhalb Jahren tobende Ukrainekonflikt an Aufmerksamkeit. Das liegt aber auch daran, dass die Front nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive weitgehend erstarrt ist und zwischen den beiden Kriegsparteien eine Pattsituation herrscht.

Gegenüber Fanpage.it versucht der angesehene Historiker, Militäranalyst und Autor mehrerer Bücher, Gastone Breccia, zu erklären, warum die ukrainische Gegenoffensive gescheitert ist und wie sich der Krieg weiterentwickeln könnte. „Für Putin und Selenskyj könnte es bald an der Zeit sein, sich an den Verhandlungstisch zu setzen“, meint Professor Gastone Breccia.

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Der Krieg zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel und die Angst vor einer Ausweitung des Konflikts auf andere Länder im Nahen Osten lenken die Aufmerksamkeit des Westens von der Ukraine ab. Nachdem sie sich monatelang fast nur verteidigt hatte, ergriff die russische Armee wieder die Initiative. Die ukrainischen Truppen halten zwar durch und bereiten sich auf einen weiteren Kriegswinter vor, aber das Scheitern der Gegenoffensive im Sommer zwingen Kiew und seine Verbündeten dazu, sorgfältig über die Zukunft nachzudenken. Wie lange wird der Westen die Ambitionen der Ukraine noch unterstützen wollen? Und wann ist die Zeit gekommen, dass Kreml-Despot Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj am Verhandlungstisch Platz nehmen werden? Professor Gastone Breccia unternimmt einen Versuch, auf diese Fragen Antworten zu finden.

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Auf die Frage, warum die Russen ausgerechnet bei Awdijiwka wieder angreifen, antwortet Gastone Breccia, dass es sich um eine symbolträchtige Stadt handle und ihre Einnahme es der russischen Armee erlauben würde, die Frontlinie zu verkürzen. Die Ukrainer klammern sich an der Stadt fest, aber trotz der hohen russischen Verluste laufen die Ukrainer laut dem Professor Gefahr, eingekesselt zu werden.

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„Aus militärischer Sicht ist das Scheitern der Gegenoffensive eine unbestreitbare Tatsache. Niemand hat behauptet, dass die Offensive zu einem Sieg über Putins Armee führen werde, aber das angepeilte Ziel, die Verbindungen zwischen der Krim und dem Donbass zu unterbrechen, wurde nicht erreicht. Nun herrscht eine Pattsituation, in der wohlgemerkt auch die Russen nicht vorankommen“, so Gastone Breccia.

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Für das Scheitern nennt der Militäranalyst mehrere Gründe. „Die beiden wichtigsten sind, dass die ukrainische Armee nie dazu imstande war, einen Schwerpunkt zu bilden und an einem Ort eine ausreichend große Anzahl von gepanzerten Fahrzeugen und Geschützen zu konzentrieren, und dass die Stärke der russischen Verteidigungsstellungen unterschätzt wurde. In der Tat hatten die Russen die Monate vor der Offensive dazu genutzt, viele Bunker und Gräben zu errichten und weitläufige Minenfelder anzulegen. Auch der Umgang mit den von den Europäern und Amerikanern gelieferten Panzern, Geschützen und sonstigen Militärgerätschaften bereitete den Ukrainern Schwierigkeiten. Die Umstellung vom gewohnten sowjetischen zum Kriegsmaterial der Nato zeitigte nicht zuletzt aufgrund des Zeitdrucks nicht immer die gewünschten Erfolge. Zudem war die Kampfmoral der russischen Truppen besser als gedacht“, so der Militäranalyst.

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Das größte Problem der Ukrainer – so Gastone Breccia – sei, dass die Zeit gegen sie arbeite. „Moskau hat erkannt, dass es nie bis Kiew, aber auch nicht bis zum Dnepr vordringen kann. Aber für Russland geht das vollkommen in Ordnung. Für Putin wäre es bereits ein großer Sieg, wenn er das, was er derzeit besetzt hält, behalten könnte. Es ist kein Zufall, dass Biden und die Europäer begonnen haben, die Ukrainer unter Druck zu setzen, damit sie anfangen, über einen Frieden nachzudenken“, erläutert Gastone Breccia.

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Neben dem Scheitern der Gegenoffensive sorgen der Krieg im Gazastreifen und der beginnende US-Präsidentschaftswahlkampf dafür, dass den Ukrainern die Zeit davonläuft. „Ohne beträchtliche Hilfe der Verbündeten kann die Ukraine bestenfalls auf das Halten der Front hoffen, sich eine erneute Gegenoffensive im kommenden Jahr aber nicht einmal vorstellen. Für die Chance auf einen Sieg der Ukraine müsste die Militärhilfe verdoppelt oder verdreifacht werden, und ich habe nicht den Eindruck, dass die Verbündeten dies tun wollen. Kiew könnte daher schon bald gezwungen sein, auf der Grundlage des derzeitigen Kräfteverhältnisses Friedensverhandlungen aufzunehmen. Für die Ukraine wäre dies eine bittere Niederlage, aber auch für Russland wäre es nur ein Pyrrhussieg“, so die Ansicht des Militäranalytikers.

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„Wenn in den Gesprächen zwischen den Amerikanern und uns Europäern eine mangelnde Bereitschaft zu wirtschaftlicher und militärischer Hilfe für die Ukraine zutage tritt, wird US-Präsident Biden keine andere Wahl haben, als dies zur Kenntnis zu nehmen und Selenskyj vorzuschlagen, dass er mit Russland zumindest einen Waffenstillstand, wenn nicht gar einen vollständigen Frieden aushandeln soll“, argumentiert Breccia.

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„Der zweite Kriegswinter wird meiner Ansicht nach ähnlich verlaufen wie der erste. Da sie erneut versuchen werden, das ukrainische Energie- und Wasserversorgungssystem in eine schwere Krise zu stürzen, werden sich die Ukrainer vor allem gegen russische Raketen- und Drohnenangriffe zur Wehr setzen müssen. Am Frontverlauf hingegen wird es kaum zu großen Veränderungen kommen. Bedeutsam hingegen ist, dass Moskau bis zum 10. Oktober tausend Container mit Rüstungsgütern aus Nordkorea erhalten hat. Es überrascht nicht, dass sie eine Woche später eine Reihe neuer Angriffe gestartet haben. Diese Nachricht ist sehr wichtig, denn sie zeigt, dass die Waffenproduktion der russischen Rüstungsindustrie nicht mit dem Frontverbrauch Schritt halten kann, was heißt, dass auch die Russen ihre Offensiven einschränken müssen. Dasselbe gilt natürlich auch für die Ukrainer. Der Krieg wird wahrscheinlich wegen des Mangels an Militärgerät und Munition zum Stillstand kommen“, so der Ausblick des Professors auf die kommenden kalten Monate.

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„Die Zahl der für das kommende Frühjahr versprochenen Panzer und F-16-Kampfjets ist zu gering, um das Kriegsglück im Sinne der Ukraine wenden zu können. Kurzum, die Hilfe für die Ukraine könnte bald versiegen, was Selenskyj zur bitteren Einsicht bewegen könnte, mit Putin in Verhandlungen einzutreten“, wagt Gastone Breccia einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. Ob der Professor und Militäranalyst recht behalten wird, werden die kommenden Monate weisen. Für das Völkerrecht wäre ein solches Szenario in jedem Fall ein Desaster.

Auch der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschni warnte in einem Aufsatz, der im „Eocnonmist“ veröffentlicht wurde, von einer Patt-Situation, die vor allem Russland nützen würde. Offensichtlich hat man Russlands Leidensfähigkeit unterschätzt.

Er habe sich geirrt mit der Annahme, dass die enormen Verluste – mindestens 150.000 russische Todesopfer – den Kreml zur Umkehr zwingen würden, schrieb Saluschni. Doch in Russland seien Menschenleben eben die billigste Ressource.

Dennoch kann sich seiner Ansicht nach das Blatt noch wenden, wenn mehrere Schlüsselbereiche angegangen werden: Dazu zählen etwa die Überwindung von Russlands Luftüberlegenheit oder bessere Fähigkeiten im Bereich der elektronischen Kriegführung.