Traurig: Bewohner der russisch besetzten Gebiete zur „Option“ gezwungen

Ukrainer wie einst die Südtiroler: Gehen oder bleiben?

Freitag, 21. März 2025 | 08:04 Uhr

Von: ka

Kiew/Mariupol/Bozen – Die Ukrainer, die seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine in den russisch besetzten Gebieten leben, stehen vor einer „Wahl“, die nicht umsonst an eines der dunkelsten und traurigsten Kapitel der Südtiroler Geschichte erinnert: Die Option.

Ähnlich wie damals die Südtiroler, die sich zwischen Gehen und Bleiben entscheiden mussten, stehen auch die Ukrainer in den russisch besetzten Gebieten vor der „Wahl“, entweder „Russen zu werden“, aber in ihrer Heimat bleiben zu dürfen, oder als „unerwünschte Personen ohne Rechtsstatus“ zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen zu werden.

LPA/Landesarchiv

Die Option gehört zu den dunkelsten und traurigsten Kapiteln der Südtiroler Geschichte. Die Folgen der „Option“, die nie eine war und viele Familien für immer auseinander riss, wurden erst Jahrzehnte später aufgearbeitet, wirken aber teilweise noch bis heute nach. Traurig ist, dass sich diese Geschichte in den nächsten Monaten wiederholen wird.

Wie vor bald 90 Jahren die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung, die von den Diktatoren Hitler und Mussolini brutal vor die Wahl gestellt wurde, sich entweder für das Deutsche Reich zu entscheiden und ihre angestammte Heimat zu verlassen oder in Südtirol zu bleiben, dafür aber ihre Sprache und Kultur aufzugeben und im faschistischen Sinne „gute Italiener“ zu werden, werden auch die Ukrainer vor die „Wahl“ gestellt, entweder „gute Russen“ zu werden und in ihrer Heimat bleiben zu dürfen oder als „unerwünschte Personen ohne Rechtsstatus“ abgeschoben zu werden.

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Hintergrund der „ukrainischen Option“ ist, dass Russland große Anstrengungen unternimmt, in den russisch besetzten Gebieten vollendete Tatsachen zu schaffen. Neben der Ausschaltung jeglichen ukrainischen Widerstandes, gegen den notfalls mit brutalsten Mitteln vorgegangen wird, sieht die russische Besatzungspolitik den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte und die Normalisierung des Wirtschaftslebens vor. Russland, das bereits 2014 die vollständig besetzte Krim und 2022 die teilweise besetzten Oblaste Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja völkerrechtswidrig annektierte, behandelt das ukrainische Territorium de facto als Teil der Russischen Föderation.

Aus diesem Grund wurde den aus russischer Sicht ehemaligen ukrainischen Staatsbürgern schon bald nach Beginn der Okkupation angeboten, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen und damit in den Genuss der damit verbundenen Rechte und Pflichten zu kommen.

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Nicht wenige Menschen, die sich schon vor dem Krieg als Russen verstanden, machten von diesem Angebot Gebrauch, aber viele andere Einwohner, die sich als Ukrainer fühlen und ihre Heimat als unrechtmäßig von Russland besetzt ansehen, weigern sich bis heute, einen russischen Pass zu beantragen.

Letztere stehen nun vor einem Dilemma. Ukrainische Staatsbürger, die sich in Russland und den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aufhalten, haben bis zum 10. September Zeit, „ihren rechtlichen Status zu regeln“, oder sie müssen das Land verlassen, heißt es in einem offiziellen Erlass, der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet und am 20. März veröffentlicht wurde.

X/Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation.

„Bürger der Ukraine, die sich in der Russischen Föderation aufhalten und keine rechtliche Grundlage für ihren Aufenthalt in der Russischen Föderation vorweisen können, sind verpflichtet, die Russische Föderation bis zum 10. September 2025 freiwillig zu verlassen oder ihren rechtlichen Status in der Russischen Föderation zu regeln“, lautet der Erlass.

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Der von Putin unterzeichnete Erlass gilt nicht nur für ukrainische Staatsbürger, die sich bis zum 10. September beim russischen Innenministerium registrieren lassen müssen, sondern auch für alle „ausländischen Staatsbürger und Staatenlosen“, die in den besetzten Teilen der Oblaste Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja leben. Diese müssen sich bis zum 10. Juni bei den russischen Gesundheitsbehörden melden, um sich auf Drogenkonsum und Infektionskrankheiten untersuchen zu lassen. Das Dekret tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.

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Petro Andrjuschtschenko, Leiter des Zentrums für Studien über die besetzten Gebiete und ehemaliger Berater des Bürgermeisters von Mariupol, erklärt, was Wladimir Putins Aufforderung an die Ukrainer, „ihren rechtlichen Status zu klären“, konkret bedeutet.

„Das bedeutet, dass sie die russische Staatsbürgerschaft beantragen müssen, aber nicht im Rahmen des vereinfachten Verfahrens für Bewohner der besetzten Gebiete, das am 31. Dezember 2024 ausgelaufen ist. Stattdessen müssen sie den Antrag als normale Flüchtlinge stellen, was ein langwieriger Prozess mit vielen Einschränkungen ist“, betont Petro Andrjuschtschenko.

Seit dem vergangenen 5. Februar führt Russland in den vorübergehend besetzten ukrainischen Gebieten ein sogenanntes „Register der kontrollierten Personen“, berichtet das Nationale Widerstandszentrum der Ukraine. Laut offizieller Präambel enthält dieses Register Ausländer und Staatenlose, die sich illegal in Russland aufhalten und abgeschoben werden können. Im Falle der besetzten ukrainischen Gebiete betrifft dies jedoch tatsächlich Ukrainer ohne russischen Pass.

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Das Zentrum erklärt, dass Ukrainer, die in diesem Register aufgeführt sind, entweder das Land verlassen oder eine „legale Aufenthaltsgenehmigung“ beantragen müssen.

Um zu erreichen, dass möglichst viele Ukrainer einen russischen Pass beantragen, übt Russland großen Druck aus. Menschen ohne russischen Pass dürfen kein Bankkonto eröffnen, keinen Grundbesitz eintragen lassen, kein Auto fahren und nicht heiraten. Zudem haben diese leidgeprüften Menschen keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Unnötig zu erwähnen, dass bei fast allen Ansuchen die Angabe der Staatsbürgerschaft obligatorisch ist.

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Beobachtern zufolge deutet der Erlass auf verstärkte Bemühungen Moskaus hin, die eroberten Gebiete zu russifizieren, indem es Druck auf ukrainische Bürger ausübt, russische Pässe zu beantragen, und gleichzeitig versucht, russische Bürger zu ermutigen, sich dort niederzulassen.

Moskau verfolgt damit mehrere Ziele. Während der starke Druck, Ukrainer zu Russen zu machen, zur Normalisierung der besetzten Gebiete beiträgt, bietet die „Option“ Putin nicht nur eine willkommene Gelegenheit, sich der „unerwünschten Einwohner“ ein für alle Mal zu entledigen, sondern auch die Bewohner der von Russland beanspruchten ukrainischen Oblaste bei den anstehenden Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen als russische Staatsbürger zu präsentieren.

Wie ukrainische Widerstandsbewegungen in den russisch besetzten Oblasten berichten, bleibt vielen Ukrainern angesichts des Drucks kaum eine andere Wahl, als die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

X/Institute for the Study of War

Da Russland rund ein Fünftel des ukrainischen Territoriums besetzt hält, dürfte das Schicksal der besetzten Gebiete ein zentrales Thema der von US-Präsident Donald Trump initiierten Friedensverhandlungen sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski erklärte, dass die territorialen Fragen zu den schwierigsten Aspekten der Verhandlungen gehören würden, und lehnte die Möglichkeit ab, die russische Souveränität über die besetzten Gebiete anzuerkennen. Russland hingegen betont, dass es nicht nur niemals auf die besetzten Oblaste verzichten, sondern auch Odessa für sich beanspruchen werde, sollten die Ukrainer nicht bereit sein, die russischen Ansprüche anzuerkennen.

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Die schwierige Lage an allen Fronten und die schwindende Unterstützung des Westens geben der Ukraine wenig Anlass zur Hoffnung. Ein dunkler Schatten liegt über dem osteuropäischen Land.

 

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