Verwirrung um Geisel-Deal im Gazastreifen

Verwirrung über Gaza-Einigung – Vorwürfe Israels an Hamas

Donnerstag, 16. Januar 2025 | 11:51 Uhr

Von: APA/Reuters/dpa

Nach der Verkündung einer Einigung über eine Waffenruhe im Gazastreifen und die Freilassung von Geiseln ist am Donnerstag eine Annahme durch das israelische Kabinett verzögert worden. Israels Premier Benjamin Netanyahu warf der Terrororganisation Hamas vor, einen “Rückzieher” gemacht zu haben. Ein Hamas-Vertreter dementierte dies. Laut Medienberichten geht es in Wahrheit um Spannungen innerhalb von Netanyahus Regierungskoalition.

Israelischen Medien zufolge sollte das Kabinett für die Absegnung des Deals am Donnerstagvormittag zusammentreten. Netanyahu betonte in seiner Aussendung, dies werde nicht geschehen, solange es keine volle Einigung mit der Palästinenserorganisation gebe. “Die Hamas zieht sich von Teilen der Vereinbarung zurück, die mit den Vermittlern und Israel getroffen wurde, um in letzter Minute Zugeständnisse zu erpressen”, hieß es. Die Hamas widersprach ihrerseits Netanyahus Behauptungen. Die Gruppierung bekenne sich zum ausgehandelten Deal, teilte Izzat el-Risheq, ein führendes Hamas-Mitglied, am Donnerstag mit.

Auseinandersetzungen in Israels Regierung

Nach der Vereinbarung gab es laut Berichten offenbar heftigen Streit innerhalb der israelischen Regierung. Finanzminister Bezalel Smotrich von der rechtsextremen Partei Religiöser Zionismus habe von Netanyahu ein Versprechen eingefordert, den Kampf gegen die Hamas nach der ersten Phase des Geiselabkommens wieder aufzunehmen, berichtete das Portal “Ynet”. Wie die “Times of Israel” mit Berufung auf einen ungenannten Beamten meldete, geht es bei der Verzögerung um “Koalitionspolitik”. Es würden zwar in der katarischen Hauptstadt Doha weiterhin indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas geführt, diese bezögen sich allerdings bloß auf “kleine Details”, die in den nächsten Stunden geklärt werden dürften. Laut anderen Medien geht es vor allem darum, wer von den palästinensischen Gefangenen freigelassen werden soll.

Am Mittwoch hatte das Vermittlerland Katar erklärt, Israel und die palästinensische Hamas hätten sich bei indirekten Verhandlungen auf ein Abkommen geeinigt. Eine Waffenruhe soll demnach am Sonntag in Kraft treten.

Zwei von Netanyahus Ministern sprachen sich umgehend öffentlich gegen die Einigung aus. Der rechtsextreme Finanzminister Smotrich sprach von einem “schlechten und gefährlichen Abkommen für die Sicherheit des Staates Israel”, auch der rechtsextreme israelische Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir von der Partei Otzma Yehudit (Jüdische Stärke) stellte sich gegen das “katastrophale Abkommen”. Beide hatten gedroht, die Regierungskoalition zu verlassen.

Österreicher Shoham auf Liste der freizulassenden Geiseln

Wie Katars Regierungschef Mohammed bin Abdulrahman Al Thani am Mittwochabend vor Journalisten sagte, sollen in einem ersten Schritt 33 israelische Geiseln freikommen, darunter Frauen, Kinder und alte sowie kranke und verletzte Zivilisten. Auf der Liste steht nach APA-Informationen auch der 39-jährige österreichisch-israelische Doppelstaatsbürger Tal Shoham. Im Austausch dafür würden in einem zweiten und dritten Schritt palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen. Die Waffenruhe werde am Sonntag in Kraft treten und von den USA, Katar und Ägypten überwacht, sagte Al Thani.

Katar, die USA und Ägypten hatten eine Vermittlerrolle in den über Monate andauernden Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas in Doha eingenommen, die Anfang Jänner wieder aufgenommen worden waren. Katars Regierungschef Al Thani sagte, die Ankündigung der Waffenruhe geschehe nun “in der Hoffnung, einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen den beiden Seiten zu erreichen”.

Israel verstärkt Angriffe in Gaza

Kurz nach der Einigung auf eine Waffenruhe greift Israels Armee nach palästinensischen Angaben weiter im Gazastreifen an. Laut einem Sprecher des von der Hamas kontrollierten Zivilschutzes kamen seitdem mehr als 70 Palästinenser bei israelischen Angriffen im gesamten Küstengebiet ums Leben, rund 200 seien verletzt worden. Etwa 60 davon seien in Gaza-Stadt getötet worden.

Am Mittwochabend hatte die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa bereits 18 Tote bei einem israelischen Angriff auf Häuser westlich der Stadt Gaza und fünf weitere Todesopfer bei weiteren Luftschlägen in dem Küstengebiet gemeldet. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Israels Armee sagte auf Anfrage, den Berichten nachzugehen.

Das israelische Militär hatte in der Früh zunächst ein Geschoss aus dem Gazastreifen gemeldet, das auf offenem Gelände eingeschlagen sei. Später berichtigte die Armee die Darstellung. Sie habe den Vorfall geprüft und festgestellt, dass es sich um eine “falsche Identifizierung” gehandelt habe. Das bedeutet, dass es keinen Angriff aus dem Gazastreifen gab.

94 Geiseln noch im Gazastreifen

Der Gaza-Krieg dauert bereits mehr als 15 Monate. Ausgelöst worden war er durch den beispiellosen Großangriff der Hamas und mit ihr verbündeter Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023. Dabei wurden israelischen Angaben zufolge 1.210 Menschen getötet und 251 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

94 der Geiseln sollen sich nach wie vor im Gazastreifen befinden, 34 von ihnen sind laut der israelischen Armee bereits tot. Unter den Entführten befindet sich auch der österreich-israelische Doppelstaatsbürger Tal Shoham.

Laut Al Thani würde sich die israelische Armee während einer ersten Phase der Waffenruhe aus den dicht besiedelten Gebieten des Gazastreifens zurückziehen, um den Austausch sowie “die Rückkehr der Vertriebenen” zu ermöglichen. Details bezüglich der zweiten und dritten Phase würden nach der Umsetzung der ersten Phase bekannt gegeben. Israelische Medien berichteten, dass Israel dem Abkommen zufolge in der ersten Phase eine Pufferzone im Gazastreifen beibehalten will.

Jubel im Gazastreifen

Die Nachricht über das Abkommen löste im gesamten Gazastreifen Jubel aus. Die Menschen tanzten, umarmten einander und fotografierten sich, um den besonderen Moment festzuhalten.

Die Hamas erklärte, die geplante Waffenruhe im Gazastreifen sei “das Ergebnis der legendären Hartnäckigkeit unseres palästinensischen Volkes und unseres tapferen Widerstands im Gazastreifen seit mehr als 15 Monaten”. Die iranischen Revolutionsgarden sprachen von einem “Sieg für den palästinensischen Widerstand”.

Biden und Trump erfreut

US-Präsident Joe Biden zeigte sich “begeistert” über die Vereinbarung und erklärte, sie sei aufgrund der “hartnäckigen und gewissenhaften” Arbeit der US-Diplomatie zustande gekommen. Zugleich betonte Biden, mit dem künftigen US-Präsidenten Donald Trump habe er dabei als “ein Team” zusammengewirkt.

Trump selbst verbuchte die Einigung wenige Tage vor seinem Amtsantritt als eigenen Erfolg. “Diese epische Waffenruhe-Vereinbarung konnte nur als Ergebnis unseres historischen Siegs im November zustande kommen”, schrieb er in seinem Onlinedienst Truth Social mit Blick auf seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte auf der Plattform X, die Vereinbarung bringe “Hoffnung für die gesamte Region, in der die Menschen viel zu lange unermessliches Leid erlitten” hätten.

China äußerte sich erleichtert und äußerte die Hoffnung, dass es zu einer Deeskalation in der Region kommen könnte, hieß es aus dem chinesischen Außenministerium.

Massive Zerstörungen im Gazastreifen

Im Gazastreifen hat der Konflikt massive Zerstörungen hinterlassen. Die israelischen Angriffe dürften bis zu zwei Drittel der Gebäude in dem dicht besiedelten Küstenstreifen zerstört oder beschädigt haben. Um das Ausmaß der Zerstörungen festzustellen, werten die US-Wissenschafter Jamon Van den Hoek und Corey Scher regelmäßig Satelliten-Radarmessungen der EU-Weltraumagentur Copernicus aus. Demnach sind zwischen dem Beginn der Kämpfe am 7. Oktober 2023 und 11. Jänner 2025 59,8 Prozent der Gebäude im Gazastreifen zerstört oder beschädigt worden. Noch höher (nämlich mit 69 Prozent) schätzt das UN-Satellitenbeobachtungsprogramms UNOSAT das Ausmaß der Zerstörungen ein.

Kommentare

Aktuell sind 2 Kommentare vorhanden

Kommentare anzeigen