Von: ka
Sexten/Rom – Offenbar scheint es für Einsicht nie zu spät zu sein. In der Internationalen Antidopingagentur Wada, die mit der Kontrolle aller Dopingfälle im Weltsport betraut ist, häufen sich die Stimmen, die vorschlagen, Doping von sehr geringfügigen “Kontaminationen”, die das Ergebnis von unsachgemäßem Verhalten Dritter sind oder unbewusst begangen wurden und sportlich nicht ins Gewicht fallen, zu unterscheiden. Es handelt sich dabei um Vorschläge und Meinungen, die nicht nur Jannik Sinner, sondern auch viele andere weltbekannte Sportlerinnen und Sportler wie etwa die polnische Tennisweltranglisten-Zweite Iga Świątek interessieren dürften.
Wie bekannt ist, legte die Wada vor zwei Monaten einen umstrittenen Einspruch gegen den Freispruch Jannik Sinners durch die International Tennis Integrity Agency ITIA ein, was die Nummer 1 der Tenniswelt dazu zwingt, sich in zweiter Instanz vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne in der Schweiz zu verteidigen. Da dieses Sportgerichtsverfahren letzten Meldungen zufolge nicht vor Mitte Februar 2025 stattfinden wird, befindet sich Jannik Sinner in der wenig beneidenswerten Lage, mit dem laufenden Verfahren im Hinterkopf den Australian Open-Titel verteidigen zu müssen.
Die psychologische Last der ganzen Affäre ist auch nicht zu unterschätzen. Seit dem heurigen Frühjahr muss der Sextner damit leben, dass gegen ihn wegen Dopings ermittelt wird. Am 4. April erhielt er die erste Benachrichtigung über eine vorläufige Suspendierung, die aber später widerrufen wurde. Kurz darauf, am 17. April, bekam er erneut die Nachricht, dass bei ihm 0,000000001 Gramm – also 1 Milliardstel Gramm – des verbotenen anabolen Steroids Clostebol nachgewiesen worden waren. Auch die zweite Suspendierung wurde aufgehoben.
Die International Tennis Integrity Agency ITIA legte eine 33 Seiten starke Akte des Dopingverfahrens an. In der minutiösen Rekonstruktion der ITIA wird beschrieben, wie durch eine enorme Leichtfertigkeit geringste Mengen des verbotenen Steroids in Janniks Körper gelangen konnten. Die ITIA gelangte zur Erkenntnis, dass dem Sextner keine Schuld trifft, und sprach Jannik Sinner frei. Daraus folgt, dass der Champion aus Sexten bis auf Weiteres keine Sperren fürchten muss und zu Turnieren antreten darf. Da er dennoch für alle Mitglieder seines Teams verantwortlich ist, musste er jedoch die in Indian Wells gesammelten Punkte und das Preisgeld abgeben. Die Wada legte gegen diesen Freispruch jedoch Berufung ein, was ein Verfahren vor dem CAS nach sich zieht.
Vor dem Hintergrund der sich häufenden Fälle geringfügigster Kontaminationen, die von den sehr feinen Messverfahren zwar gerade noch nachgewiesen werden können, den Sportlerinnen und Sportlern jedoch erwiesenermaßen keinen sportlichen Vorteil verleihen, scheint jedoch gerade in der Wada ein Umdenken stattzufinden. Kein Geringerer als der Generaldirektor der Wada, Olivier Niggli, lässt in einem Interview mit der französischen Sportzeitung L’Equipe durchblicken, wie die Internationale Antidopingagentur fortan mit der Messung von irrelevanten Mengen von Dopingsubstanzen nach einer Kontrolle eines Athleten umgehen könnte.
Das Problem, meint Olivier Niggli, bestehe darin, dass „unsere Labors heute viel leistungsfähiger und technologisch besser ausgestattet sind als in der Vergangenheit, was zur Folge hat, dass sie selbst winzige Substanzmengen nachweisen können“.
Das Problem der hochfeinen Nachweismethoden, durch die selbst eine unbeabsichtigte Kontamination vorschnell als Doping gewertet wird, ist zwar seit Jahren bekannt, erlangte jedoch erst vor wenigen Tagen wieder Aufmerksamkeit, als bei der polnischen Tennisweltranglisten-Zweiten Iga Świątek „eine unglaublich niedrige Konzentration von Trimetazidin“ festgestellt wurde.
Iga Świątek konnte glaubhaft versichern, dass die sehr geringfügige Menge der verbotenen Substanz durch ein banales Medikament in ihren Körper gelangt war, das sie eingenommen hatte, um den Jetlag besser zu überstehen. Zu keinem Zeitpunkt hätte die Menge ausgereicht, um der bekannten polnischen Tennisspielerin einen wie auch immer gearteten Vorteil zu verschaffen.
Jannik Sinner und Iga Swiatek sind jedoch nicht die zwei einzigen umstrittenen Fälle. Jene des Fußballprofis José Luis Palomino, der bei Atalanta Bergamo spielt und nach einer zunächst verhängten Sperre freigesprochen wurde, und des für zwölf Monate gesperrten Basketballspielers Riccardo Moraschini sind ähnlich gelagert.
„Die Mengen sind dermaßen gering, dass man sich schon durch kleine Unachtsamkeiten kontaminieren kann“, fügt Niggli hinzu. Der Generaldirektor der Wada scheint zur Überzeugung gelangt zu sein, dass Schwellenwerte einzuführen seien, unterhalb derer ein Athlet, der auf geringste Mengen positiv getestet wurde, zu einem Freispruch gelangen könnte. „Mit festen Schwellenwerten hätten wir all diese Fälle, die aufgetreten sind, nicht erlebt. Was wir verstehen müssen, ist, ob wir bereit sind, dies zu akzeptieren“, betont Olivier Niggli gegenüber der französischen Sportzeitung L’Equipe.
Um zu prüfen, ob und in welcher Weise die herrschenden Verfahren überdacht werden sollten, wird die Wada einen Arbeitstisch einrichten. Jannik Sinner muss bis Mitte Februar weiterhin bangen, aber die dunklen Wolken scheinen sich für alle sichtbar langsam zu lichten.
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