Von: ka
New York City/Sexten – Nach Jannik Sinners Triumph bei den US Open ist klar, dass sich der Tennischampion aus Sexten und sein nur um ein Jahr jüngerer Rivale aus Spanien, Carlos Alcaraz, die vier Grand Slams “brüderlich” geteilt haben. Während Carlos Alcaraz in Paris und Wimbledon jubeln konnte, gelang es dem Sextner, die beiden “englischen” Grand Slams – die Australian und die US Open – zu gewinnen. Da er auch darüber hinaus fleißig ATP-Punkte sammeln konnte, ist jedoch Jannik Sinner die unangefochtene Nummer eins der Tenniswelt.
Da den beiden jungen Tennisstars die Zukunft gehört, werden die Tennisexperten nicht müde, die beiden miteinander zu vergleichen. Nicht wenige Koryphäen vertreten die Ansicht, dass Alcaraz’ Spiel besser aussehe und dass der Spanier spielerisch kompletter sei, aber viele stimmen darin überein, dass der junge Spanier sicherlich weniger solide sei als Sinner. Dies verdeutlicht nichts besser als Sinners Tennisstatistik, die dem Corriere della Sera zufolge von einem anderen Stern zu kommen scheint. Bei den US Open gewann Jannik 70 Prozent der Ballwechsel unter sechs Schlägen.
Nachdem er sich von seinem langjährigen Trainer Riccardo Piatti getrennt hatte, verspürte Jannik Sinner fast reflexartig den Drang, viele Aspekte seines Spiels zu ändern und es variabler zu gestalten. Aber je mehr er versuchte, etwas Neues auszuprobieren, desto mehr lief er Gefahr, seine spielerische Identität zu verlieren. Erst als er beschloss, seine sportliche Zukunft seinen beiden Trainern Simone Vagnozzi und Darren Cahill anzuvertrauen, fand Jannik Sinner zu seiner “sportlichen Linie” zurück.
Er musste nicht mehr vorgeben, etwas zu sein, was er nicht war. Die Natur eines Spielers lässt sich nicht ändern. Seine Trainer wiesen darauf hin, dass seine Stärke sein harter Schlag sei, und rieten ihm, daran zu arbeiten, ihn zu perfektionieren und zu einer im Spiel “ständig anwendbaren Waffe” zu machen. Erst wenn der “harte Schlag” perfekt sitze – wurde ihm gesagt –, sei der Moment gekommen, in seinem Tennis Spielvariationen einzubauen.
Darren Cahill und Simone Vagnozzi sollten Recht behalten. Jannik gewann in der selben Saison seinen ersten und seinen zweiten Grand Slam. Der einzige Spieler, dem dies vor ihm gelungen war, war der Argentinier Guillermo Vilas im fernen Jahr 1977 gewesen.
Am Ende dieses langsamen Prozesses zu einer “Spieleridentität” zu finden, erkannte die Tenniswelt, dass Janniks große Stärke seine technische und mentale Beständigkeit ist. Derzeit gibt es keinen Profispieler auf seinem Niveau, der in der Lage ist, den Ball so hart und immer mit der gleichen Konstanz und Präzision zu schlagen.
“Er kann vier Stunden lang auf dieselbe Art und Weise von der Grundlinie aus auf den Platz schlagen”, so die ehemalige Weltmeisterin Justine Henin bewundernd, die wegen ihres ganz anderen Tennisspiels als Jannik immer noch Kultstatus genießt.
Nicht jedem gefällt das. Die Washington Post, die dem Weltranglistenersten ein Porträt auf der Titelseite widmete, sprach von einem “erstickenden Rhythmus”. “Der Rhythmus und das Geräusch seiner Schläge sind so regelmäßig, dass sie das Spiel einschläfern”, schrieb die amerikanische Sportkolumnistin Sally Jenkins.
Weil er den Vorwurf zu enthalten scheint, er sei ein langweiliger Spieler, stieß der Artikel von Sally Jenkins bei italienischen Tennisfans auf heftige Kritik. Wenigen war jedoch bewusst, dass er eigentlich ein Lob seiner größten Tugend war. Obwohl er aufgrund des laufenden Dopingverfahrens ständig unter Druck stand, gelang es ihm, mit den in den letzten Monaten erbrachten hervorragenden Leistungen seine mentale Stärke zu unterstreichen.
Dabei bildeten die US Open keine Ausnahme. Das Viertelfinale gegen Daniil Medvedev, das Schlüsselspiel des amerikanischen Turniers, endete, als der Russe Mitte des vierten Satzes einen mühsam erarbeiteten Breakball mit einem Volley ins Aus schlug. Jeder, der das Match verfolgte, spürte deutlich, dass das die Wende des Spiels bedeutete.
Gegen Jannik Sinner bekommt der Gegenspieler oft nur diese eine Chance, oftmals sogar gar keine. Im US-Open-Finale, das nie wirklich offen war, vermochte Taylor Fritz nur im zweiten Satz, den der Sextner mit nur einem Fehler gewann, sein bestes Tennis zu zeigen. Sinners beispiellosem Druck von der Grundlinie konnte der US-Amerikaner wenig entgegensetzen.
Der Champion aus Sexten beendete die US Open mit einer Statistik, die seine Überlegenheit bezeugt und von einem anderen Stern zu kommen scheint. Er gewann nicht weniger als 70 Prozent der Ballwechsel unter sechs Schlägen. Dabei handelt es sich zumeist um Ballwechsel, die selten in den Videohighlights der Begegnungen auftauchen, aber es sind fast immer die, die spielentscheidend sind.
Seine Gegner, die diesen Schlägen standhalten können, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Jene, die das können, scheiden oft aus dem Turnier aus, bevor sie auf Sinner treffen. Carlos Alcaraz’ Tennis gilt einhellig als schöner und der junge Spanier wird von den meisten auch für spielerisch kompletter als der Sextner gehalten, aber an Sinners mentaler Stärke und sportlicher Spielbeständigkeit kommt er nicht heran.
Mit zwei Grand Slam-Siegen, weiteren wichtigen Siegen und einer Statistik, die bisher nur fünf Niederlagen aufweist, beweist Jannik, dass er eine überragende Saison spielt.
Beständigkeit lässt sich allerdings nicht so leicht vermarkten wie schöne und lange Ballwechsel. In einer Welt, die beständig auf der Suche nach einem Tennisspieler ist, dessen Spiel ästhetischer ist, hat es ein Spieler wie Jannik – auch wenn er in den Augen der Tennisexperten “schön spielt” – nicht immer leicht.
Es ist das ewige Missverständnis, dass Talent, das auch in der Fähigkeit bestehen kann, eine beidhändige Rückhand tausendmal fehlerlos zu schlagen, mit einem bestimmten Spielstil verwechselt wird. Da Roger Federers Tennis mit seiner spielerischen Anmut und Eleganz seit jeher als vorbildhaft gilt, kann man dieses Missverständnis den “Federer-Komplex” nennen.
Aber das sind Fanmeinungen, die mittlerweile Teil der Tennishistorie sind. Dies war das erste Jahr seit dem Jahr 2002, in dem keiner der sogenannten “Großen Drei” – Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Đoković – einen Grand Slam gewonnen hat. Die Zeiten haben sich geändert. Die Zukunft gehört – so Gott will – Jannik Sinner und Carlos Alcaraz. In diesem “Duell der Jungen” besitzt der Sextner, der von der Grundlinie großen Druck auszuüben vermag, einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Nicht umsonst gilt Janniks Tennis als unerbittlich.
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