Von: ka
Bruneck – Die Coronakrise mit ihren schweren gesundheitlichen Folgen, mit wirtschaftlicher Dauerbelastung und massiven psychosozialen Einschränkungen wie Einsamkeit, Digitalisierung und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hat sie schlagartig zur Weltkrankheit Nr. 1 gemacht: die Depression. Eine Studie des Wiener Anton Proksch-Instituts zeigt deutlich: die psychosoziale Seite der Coronakrise übersteigt die medizinische bei Weitem, und dürfte sie auch lange überleben. Angst und Erschöpfung lauern zur Zeit praktisch überall.
An sich hatten Weltbank und WHO geschätzt, dass 2020 die Depression weltweit zur zweitwichtigsten Krankheit nach den Herz-Kreislauferkrankungen würde, und erst 2030 zur wichtigsten überhaupt. Aber Corona hat alles um 10 Jahre beschleunigt.
Fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung krankt in der westlichen Welt in jedem Augenblick an Depressionen, das sind in Südtirol gut 20.000 Menschen, doppelt so viel Frauen wie Männer. In den Großstädten sind Depressionen noch häufiger: 10 Prozent ihrer Bewohner leiden daran. Allein schon dieser Umstand beweist, dass Depressionen auch mit der Leistungsgesellschaft zusammenhängen, mit dem hektischen Lebensrhythmus, der Digitalisierung und dem großen sozialen Druck, denen wir ausgesetzt sind. Darüber hinaus spielen erbliche Einflüsse und frühkindliche Erfahrungen bei ihrer Entstehung eine große Rolle.
Die Depression ist laut WHO die Volkskrankheit, die der Menschheit am meisten gesunde Lebensjahre raubt. Sie verschlingt in hoch entwickelten Ländern ein Prozent des Bruttosozialproduktes.
Und sie kann jeden treffen. Wolfgang Amadeus Mozart, Abraham Lincoln, Winston Churchill und Prinzessin Diana litten daran. Ernest Hemingway, Adalbert Stifter, Marilyn Monroe, Heinrich von Kleist und Robin Williams verstarben an ihr. Tom Waits, Jean Claude van Damme und Sting können ein Lied davon singen. Und Cara Delevigne erklärte vor Jahren: “Ich war suizidal. Ich wollte, dass alle Moleküle meines Körpers sich auflösten.“
40 bis 70 Prozent aller Selbsttötungen sind laut internationalen Schätzungen auf die Erkrankung Depression zurückzuführen. In Südtirol sind laut einer Zehnjahresstudie 55 Prozent aller Suizidopfer depressiv gewesen. Wären alle Betroffenen korrekt diagnostiziert und rasch behandelt worden, hätte man die Suizidrate Südtirols halbieren können.
Ein Drittel aller depressiv Erkrankten sucht keine Hilfe. Nur die Hälfte aller depressiven Patienten wird von Ärzten als solche erkannt und richtig behandelt.
Bei diesen Sachverhalten ist Handlungsbedarf gegeben: Aufklärung der Bevölkerung, Schulung der Fachleute, Stärkung der Selbsthilfe. Denn Depression ist eine häufige, ernst zu nehmende Erkrankung, die heute sehr gut behandelt werden kann.
Die drei wichtigsten Kennzeichen der Depression sind dauerhaft gedrückte Stimmung, der Verlust von Freuden und Interessen und ein konstanter Mangel an seelischer Energie. Betroffene haben manchmal nicht mehr die Kraft, Entscheidungen zu treffen, sich Hilfe zu holen oder zu klagen. Viele beschreiben sich als so leer, dass sie nicht einmal mehr weinen können. Andere sind innerlich unruhig, verspannt und voller körperlicher Symptome. Kopf- oder Rückenschmerzen, Druck auf der Brust, unerträgliches Kribbeln im Bauch, Schwindel und Schwäche bei allen Bewegungen sind die häufigsten körperlichen Merkmale einer Depression. Aber auch Mundtrockenheit, Sehstörungen und Haarausfall können auftreten.
Die Säulen der Behandlung stellen Psychotherapie, antidepressive Medikamente und Teilnahme an Selbsthilfegruppen dar. Psychotherapie ist Behandlung und Heilung durch das Wort, durch Gespräche, durch Übungen und das Erlangen neuer Einstellungen zu alten Problemen. Bis Psychotherapien wirken, können allerdings Monate vergehen. Medikamentöse Behandlungen mit Antidepressiva sind hilfreich, um innerhalb weniger Wochen die Energie und die Stimmung wieder zu normalisieren. Häufig wird beides kombiniert, um rasche Besserung und nachhaltige Veränderung zu erreichen. Aber auch Schlafentzug, Lichttherapie, transkranielle Magnetstimulation oder die Elektrokrampftherapie können in bestimmten Fällen zu besten Heilerfolgen führen.
Seit 14 Jahren wird in Europa der „Tag der Depression“ begangen. Er fällt auf den 1. Oktober und gewährleistet breit gefächerte Aufklärung über das Krankheitsbild und mögliche Hilfen. Zu diesem Zweck richtet die „Europäische Allianz gegen Depression“ an den 4 Hauptkrankenhäusern Südtirols einen Informationsstand Depression ein. Den ganzen Tag über werden im Eingangsbereich die zweisprachigen Broschüren „Depression – was tun?“ zum Mitnehmen aufliegen. Sie bieten einen verständlichen Überblick über die wichtigste psychische Krankheit des 21. Jahrhunderts. Sie sind mit finanzieller und ideeller Hilfe aller Rotarier Südtirols neu gestaltet worden. Past-Präsidentin Isabelle Prinoth vom Rotary-Club Brixen-Bruneck hat die Neuauflage mit unermüdlichem Einsatz ermöglicht, und zugleich auch den Druck von so genannten „Notfallkärtchen“, die ebenso mitgenommen werden können. Das sind Visitenkarten mit den Nummern der Telefonberatungsdienste im Land. Sie können in den Brieftaschen verbleiben, bis sie im Krisenfall Bedürftigen diskret weiter gereicht werden. Oder bis sie der Träger selbst in eigener Not verwenden kann. Aktive Hilfesuche ist ein Zeichen von Zivilcourage.
Beides, Broschüren und Notfallkärtchen, liegen ab 1. Oktober auch in allen Apotheken Südtirols auf. Das ist ein Hilfsangebot der Apothekerkammer und ihres Präsidenten Maximin Liebl. Denn Apotheken sind gerade in der aktuellen Krise zu den wichtigsten Gesundheitszentren geworden, und damit zunehmend auch für die psychische Gesundheit zuständig.
Das Projekt wird vom Südtiroler Gesundheitsbetrieb, vom Verband der Angehörigen „Ariadne“ und von der Selbsthilfevereinigung psychisch Kranker „Lichtung/Girasole“ gemeinsam getragen. Heuer erstmals mit dabei sind die Apothekerkammer und alle Rotary-Clubs Südtirols.
Als beste Anlaufstellen für depressiv Erkrankte gelten Hausärzte, Zentren Psychischer Gesundheit und Psychologische Dienste, aber auch privat praktizierende Psychiater, Psychotherapeuten und Apotheker. In Notfällen, die mit schwerer Erkrankung oder Suizidgefahr verknüpft sind, soll man sich an die Notfallnummer 112 oder an die Ersten Hilfen der Krankenhäuser von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck wenden. Dort besteht rund um die Uhr ein psychiatrischer Bereitschaftsdienst.
Ein Netzwerk der Beratung im Vorfeld hilft immer dann, wenn Gesprächsbedarf besteht. Oder wenn Hilfspläne erst entwickelt werden müssen. Die „Telefonseelsorge“ der Caritas 0471 052052 rund um die Uhr in deutscher Sprache, „telefono amico“ 02 23272327 auf italienisch von 10 bis 24 Uhr und „Young and direct“ 0471 1551551 zweisprachig von Mo bis Frei von 14.30 bis 19.30 stellen wertvolle Anlaufstellen und Gesprächspartner in seelischen Krisen dar. Selbsthilfegruppen für Betroffene werden von der Vereinigung „Lichtung/Girasole“, Tel. 0474 530266, im ganzen Land angeboten. Angehörigengruppen können beim Verein „Ariadne“, Tel 0471 260303, kontaktiert werden.