Für Buchmacher nobelpreisverdächtig: Norbert Gstrein

20 Jahre nach Jelinek: Gstrein unter den Nobelpreisfavoriten

Freitag, 04. Oktober 2024 | 10:41 Uhr

Von: apa

Anfang Oktober sind Anrufe aus Stockholm ein begehrtes Gut in Literaturkreisen. Wenn es nicht gerade ein Spaßvogel ist, könnte es die Schwedische Akademie sein – mit jener frohen Nobelpreis-Botschaft, die kurz danach vor einer prunkvollen Tür des ehrwürdigen Instituts der Weltpresse verkündet wird: Vor 20 Jahren wurde Elfriede Jelinek angerufen, vor fünf Jahren Peter Handke. Auch heuer findet sich wieder ein Österreicher unter den Favoriten der Buchmacher: Norbert Gstrein.

Jelinek ereilte der Anruf am 7. Oktober 2004 um 12.30 Uhr in ihrer Wiener Wohnung. “Das muss man dann glauben, wenn man den schwedischen Akzent hört”, sagte sie danach der APA. “Natürlich freue ich mich auch, da hat es keinen Sinn zu heucheln, aber ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude. Ich eigne mich nicht dafür, als Person an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden.” Sofort wusste sie, dass sie den Preis nicht persönlich entgegen nehmen wolle: “Das habe ich gleich beim Sekretär der Schwedischen Akademie deponiert. Er hat das als zivilisierter Mensch auch freundlich zur Kenntnis genommen.” Rasch organisierte sie einen Freund, der Telefon-Dienst machte, eine Flut von Anrufen entgegennahm und Fotografen die Türe öffnete. Sofort hatte sie “böse Ahnungen”, dass der Nobelpreis für sie eine Belastung bedeuten werde, “denn man wird zur öffentlichen Person. Wenn mir das zu viel wird, muss ich weggehen.” Zumindest aus der Öffentlichkeit zog sich die Autorin in der Folge weitestgehend zurück.

Peter Handke nahm den Anruf am 10. Oktober 2019 um die Mittagszeit in seinem Haus in einem Pariser Vorort entgegen. “Er war sehr, sehr gerührt. Erst hat er kaum ein Wort herausbekommen”, sagte Anders Olsson, der Vorsitzende des Nobelkomitees der Akademie, danach. Nach einer Weile habe Handke auf Deutsch gefragt: “Ist das wahr?” – “Gegen 12 Uhr hat das Telefon geläutet und ich dachte, es ist ein amerikanischer Anwalt, mit dem ich mich in Den Haag treffen werde. Ich wollte gerade weggehen. Ich habe mich gefreut. Aber danach bin ich weggegangen”, sagte Handke, als die APA ihn nach seinem vierstündigen Spaziergang (“Ich bin durch die Wälder geeiert, wie ich es eigentlich vorhatte.”) am späten Nachmittag als erstes Medium am Telefon erreichte. Da hatte er sich schon durch eine Journalisten-Traube vor seiner Gartentüre kämpfen müssen. “Ich kann mich ja nicht ins Haus schleichen. Ich bin jetzt auf eine seltsame Weise ein öffentlicher Mensch, wenn so etwas eintritt. Ich kann nicht sagen, dass es mir Spaß macht, die meisten Fragen machen mir keinen Spaß. Ich versuche halt, gute Miene zum nachlässigen Spiel zu machen.” In den folgenden, sich weniger an Handkes Schreiben als seinen politischen Ansichten entzündenden, Aufregungen gelang ihm dies allerdings nicht immer.

Wer am nächsten Donnerstag (10. Oktober) gegen 12 Uhr den Anruf von Matts Malm, dem Ständigen Sekretär der Schwedischen Akademie, erhalten wird, darüber wird wie jedes Jahr wild spekuliert. Überraschenderweise findet sich auch wieder ein Österreicher auf den vorderen Plätzen der Buchmacher. Es ist aber nicht – wie in den vergangenen Jahren immer wieder – Christoph Ransmayr, sondern der in Hamburg lebende Tiroler Norbert Gstrein. Der 63-jährige Autor, neben vielen anderen Preisen auch mit dem Österreichischen Buchpreis 2019 ausgezeichnet, findet sich etwa bei Ladbrokes mit einer Quote 20/1 nur knapp hinter Literatur-Weltstars wie der Kanadierin Margaret Atwood und dem US-Amerikaner Thomas Pynchon (je 16/1), aber noch vor dem Rumänen Mircea Cartarescu, dem berühmten Briten Salman Rushdie und dem Kenianer Ngugi Wa Thiong’o, die seit Jahren auf keiner Favoritenliste fehlen (je 25/1).

Bedeutete eine Auszeichnung für den Österreicher Gstrein, der sich in seinen Büchern mit komplizierten Motivlagen, ständigen Selbstzweifeln und alternativen Deutungsversionen immer schon dem einfachen Storytelling verweigert hat und dessen bisher letzter Roman “Vier Tage, drei Nächte” 2022 erschien, eine Sensation, wäre die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an die Chinesin Can Xue ein Favoritinnensieg. Bei fast allen Buchmachern liegt die unter diesem Pseudonym über Heimat und Heimatlosigkeit schreibende 71-jährige experimentelle Autorin Deng Xiaohua, deren Eltern Verleger waren und der Kulturrevolution zum Opfer fielen, an der Spitze. Ihr Roman “Liebe im neuen Jahrtausend” war 2022 für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt nominiert. Bei der kommenden Frankfurter Buchmesse könnte der Verlag Matthes & Seitz Berlin belagert werden, wo Can Xues jüngster Prosaband “Schattenvolk” vorgestellt wird – “eine atemberaubende Reise durch innere und äußere Landschaften”. Als erster und bisher einziger Chinese gewann Mo Yan 2012 den Literaturnobelpreis.

Bjorn Wiman, Kulturredakteur bei der Schwedischen Tageszeitung “Dagens Nyheter”, tippte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP darauf, dass es nach den vorangegangen Nobelpreisen an die Europäer Annie Ernaux und Jon Fosse diesmal eine nichteuropäische Frau werden könnte. Neben Can Xue finden sich da nicht viele auf den Listen der Wettbüros, denn die neu dort auftauchende 71-Jährige Ersi Sotiropoulos ist Griechin. Bessere Chancen hätten da schon die 73-jährige australische Aborigine-Autorin Alexis Wright, die 75-jährige antiguanisch-amerikanische Schriftstellerin Jamaica Kincaid oder die 74-jährige Kanadierin Anne Carson, die sich seit Jahren im Favoritenkreis der erweiterten Kandidatenliste der 18-köpfigen Schwedischen Akademie hält, die an die 200 Namen enthalten soll.

Wird es erneut ein Mann, dann darf sich neben dem Japaner Haruki Murakami und dem Argentinier César Aira vor allem der Australier Gerald Murnane große Chancen ausrechnen. Der vielfach ausgezeichnete und etwa mit Franz Kafka oder Thomas Bernhard verglichene Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays (zuletzt erschien auf Deutsch 2022 sein Roman über Sehnsucht und Schuld “Inland”) gilt seit vielen Jahren als nobelpreisverdächtig. Mittlerweile ist er 85 und liegt bei manchen Buchmachern gleichauf mit Can Xue.

Nur zwei Dinge stehen bereits fest: Der Literaturnobelpreis ist heuer erneut mit elf Millionen Schwedischen Kronen (knapp 970.000 Euro) dotiert. Und er wird wie immer am Todestag des Preisstifters und Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833-1896) am 10. Dezember in Stockholm überreicht.

(S E R V I C E – https://www.nobelprize.org)