Von: mk
Bozen – Bei den Überresten einer eingestürzten späteisenzeitlichen Brücke im Drei-Seen-Land (Schweiz) wurden 1965 bei Bauarbeiten rund 20 uralte menschliche Skelette entdeckt. Seither wird darüber gerätselt, was an diesem Flussbett in Cornaux/Les Sauges wirklich passiert ist, wer die Toten waren und was ihnen damals zugestoßen ist. Jetzt haben Forschende aus den Bereichen Archäologie, Anthropologie, Thanatologie, Biochemie und Paläogenetik den Fall erneut untersucht. Die Ergebnisse ihrer vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und von der Autonomen Provinz Bozen (Südtirol) unterstützten Arbeit wurden vor Kurzem in der Zeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
Ein plötzliches Unglück ist plausibel
Die Studie ist Teil einer internationalen Zusammenarbeit zwischen der Universität Bern und dem Institut für Mumienforschung von Eurac Research in Bozen. Ihr Ziel ist es, neue Erkenntnisse über die keltische Kultur in der Schweiz und in Norditalien zu gewinnen. Was damals in Cornaux/Les Sauges geschah, ist höchst rätselhaft. Eine These lautet, dass eine abrupte Überschwemmung zum Einsturz der Brücke führte, eine andere, dass es sich bei den Skeletten um Menschenopfer handelt – eine für die Kelten belegte Praxis.
Zur Rekonstruktion der Tragödie führte das Forschungsteam vielfältige Analysen durch. Der gute Zustand der Fundstücke – in fünf Schädeln sind sogar noch Reste des Gehirns erhalten – spricht dafür, dass die Leichen nach dem Tod schnell unter Sedimenten begraben wurden. Vom Schädel bis zu den Beinen weisen die Skelette zudem zahlreiche Verletzungen auf, die auf starke Gewalteinwirkungen zurückgehen dürften. Im Gegensatz zu anderen europäischen Fundstätten, wo Menschenopfer nachgewiesen sind, wurden in diesem Fall jedoch keine durch scharfe Gegenstände verursachten Verletzungen festgestellt. Die Analysen stützen also die These eines Unglücks. Auch das Durcheinander von Knochen und Holzstücken weist darauf hin.
Vielleicht starben nicht alle gleichzeitig
Chemische Untersuchungen einzelner Knochen und Zähne gaben den Forschenden schließlich weitere Anhaltspunkte: Mit Radiokohlenstoffdatierungen konnten sie bestimmen, wann die Menschen gelebt haben. Isotopenanalysen zeigten, was sie gegessen und wo sie gelebt haben. Bei der Hälfte der Skelette wurde zudem mit paläogenetischen Verfahren die antike DNA entschlüsselt. So wurden Proben von elf der Individuen im Labor für antike DNA von Eurac Research in Bozen auf Verwandtschaftsbeziehungen und auf ihr Geschlecht hin untersucht.
„Wir konnten zwischen den Untersuchten keine engere biologische Verwandtschaftsbeziehung finden“, erklärt Stefania Zingale, Paläogenetikerin am Institut für Mumienforschung von Eurac Research. „Oft analysieren wir menschliche Überreste, die an derselben Stelle begraben wurden – und dort können wir verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Individuen feststellen. Aufgrund der Besonderheit dieser Fundstelle, ist es schwierig – wenn nicht gar unmöglich – zu sagen, warum die untersuchten Individuen nicht enger miteinander verwandt sind.“ Es eigneten sich allerdings nicht alle Proben für eine genetische Analyse, daher könne nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse für alle gefundenen Individuen gelten, führt Zingale an. „Das Besondere ist, dass es die ersten genomischen Daten aus späteisenzeitlichen Schweiz sind, die wir gewinnen konnten, und wir erwarten noch weitere spannende Erkenntnisse“, unterstreicht Zingale.
Die aktuellen Ergebnisse belegen, dass es sich um mindestens 20 Individuen handelt: ein Mädchen, zwei weitere Kinder und 17 zumeist junge Erwachsene, davon vermutlich 15 männliche. Die Mehrheit junger Männer könnte auf eine Gruppe geopferter Gefangener oder Sklaven hinweisen, aber auch auf eine Gruppe von Händlern oder Soldaten. Da nicht alle Radiokohlenstoffdatierungen eindeutig ausfielen, lässt sich zudem nicht mit Sicherheit sagen, ob alle Todesfälle zur gleichen Zeit eintraten und ob sie auch wirklich mit der Zerstörung der Brücke zusammenfielen. „Bei Berücksichtigung all dieser verschiedenen Elemente lässt sich vermuten, dass sich in Cornaux ein heftiges, schnelles Unglück ereignet hat“, fasst Marco Milella zusammen, Forscher der Universität Bern und Co-Leiter des Projekts. „Doch die Brücke könnte auch vorher schon eine Opferstätte gewesen sein.“ Es sei nicht auszuschließen, dass sich einige Leichen bereits vor dem Unfall dort befanden. „Es muss nicht zwingend nur eine der beiden Thesen zutreffen.“
Schon damals durchmischt, mobil und zentral
Das Drei-Seen-Land war für die Kelten von großer Bedeutung. Dies insbesondere für die Helvetier, den größten keltischen Volksstamm, der zwischen dem Genfer- und dem Bodensee lebte. Die neue Studie, bei der erstmals paläogenomische Analysen von Keltinnen und Kelten in der Schweiz durchgeführt wurden, bestätigt die Nähe zu anderen Völkern der Eisenzeit. Die in Cornaux identifizierten Linien sind auch in den Gebieten der Britischen Inseln, der Tschechischen Republik, in Spanien und Mittelitalien zu finden. Die Isotopenanalysen wiederum zeigen, dass die untersuchten Individuen teilweise wohl im Drei-Seen-Land aufgewachsen sind, teilweise aber auch im Alpenraum. „Die Funde bestätigen die Bedeutung der Region in der damaligen Epoche“, erklärt Albert Zink, Leiter des Instituts für Mumienforschung von Eurac Research. „Sie belegen die Vorstellung, dass bei den keltischen Volksstämmen eine hohe Mobilität und Durchmischung stattgefunden hat. Die Helvetierinnen und Helvetier blieben also keineswegs unter sich und verschanzten sich hinter ihren Bergen, sondern lebten an einem pulsierenden Dreh- und Angelpunkt im Herzen Europas“, schließt Zink.
Link zur wissenschaftlichen Publikation „Geographic origin, ancestry, and death circumstances at the Cornaux/Les Sauges Iron Age bridge, Switzerland“: https://doi.org/10.1038/s41598-024-62524-y