Von: mk
Brixen – Einige Lehrpersonen des Schulsprengels Brixen/Milland haben mit Befremden die Pläne der Landesschuldirektorin für das Schuljahr 2020/21 zur Kenntnis genommen. Große Bedenken gibt es unter anderem wegen der Reduzierung der Unterrichtszeiten. Darum haben die Lehrpersonen im Auftrag von vielen Kolleginnen und Kollegen einen Offenen Brief verfasst.
Die Reduzierung der Unterrichtszeiten wird deshalb als bedenklich eingestuft, weil sie sich nachteilig auf den Unterricht und auf die Bildung der Kinder auswirke.
Die Lehrpersonen erhielten auch unerwartete Unterstützung vonseiten der Zivilbevölkerung, welche mit Namen und Wohnort das vorliegende Schreiben nun mitträgt. „Diese breite Zustimmung beweist, dass wir mit unserer Initiative vielen aus der Seele sprechen“, erklären die Lehrpersonen.
Bisher seien 2.322 (Stand, 29.06.2020, 14.30 Uhr) Unterstützermails eingegangen und es würden stündlich mehr.
Es folgt die Stellungnahme zu Plänen der Landeschuldirektion für das Schuljahr 2020/2021 in der Grundschule im Wortlaut:
In den letzten Tagen und Wochen konnte man in verschiedensten Medien immer wieder wechselnde Informationen darüber lesen, wie sich Bildungsdirektion und Politik das Schuljahr 2020/21 vorstellen: Präsenzunterricht in der Grund- und Mittelschule, Maskenpflicht nur bis Kinder und Jugendliche ihre Sitzplätze eingenommen haben, kein oder ein Nachmittagsunterricht – war zu lesen und zu hören. Landesrat Achammer hat jüngst in Interviews im Zusammenhang mit der Schule von einem Ampelsystem gesprochen: „Grün“ für Normalbetrieb – sprich: Unterricht wie bis zum 5. März 2020, „Gelb“ für Präsenzunterricht am Vormittag mit gewissen Sicherheitsauflagen und „Rot“ für den Fall einer erneuten Aussetzung des Präsenzunterrichts. Angestrebt werde natürlich der Normalbetrieb, also Ampel auf Grün, so Achammer … tatsächlich geplant wird an den Schulen im Auftrag der Landesschuldirektion aber Gelb. Und dies so konkret, dass es für uns als Lehrpersonen den Anschein hat, dass es Grün für 2020/21 lediglich als Lippenbekenntnis des Landesrates gibt. De facto steht die Ampel auf Gelb – und was das bedeutet und welche Gefahren damit verbunden sind, möchten wir hier näher ausführen.
• Die Pläne der Landesschuldirektion sehen eine Reduzierung des Unterrichts für die Grund- und Mittschule auf den Vormittag vor. Der Nachmittagsunterricht und die Mensa fallen dabei weg. Vorgesehen sind Unterrichtszeiten von 7.30 Uhr bis 13.00 Uhr, wobei es insgesamt gleitende Eintritts- und Austrittszeiten von 1,5 Stunden gibt. Somit wird die Zeit des Kernunterrichts auf 17,5 Wochenstunden reduziert. Zum Vergleich: Bis jetzt hatten die Kinder in der Grundschule eine Kernunterrichtszeit von 26,5 Stunden. Diese Verringerung der Kernzeiten hat natürlich große Auswirkungen auf die Stundentafel. In einer vierten oder fünften Klasse haben die Kinder nach dem neuen Modell nur mehr drei Italienischstunden anstatt wie bisher fünf. Die Turnstunden, der Kunstunterricht, Religion, Geschichte, Erdkunde und Naturkunde werden auf die Hälfte reduziert und auch bei allen anderen Fächern sind Abstriche zu machen.
• Die gleitenden Ein- und Austrittszeiten sollen für das selbstorganisierte, fächerübergreifende Lernen (SOL) genutzt werden, damit die Kinder für den Fall einer zweiten Schließung der Schulen auf den Fernunterricht vorbereitet sind. Wir haben als Lehrer*innen seit jeher die Selbständigkeit unserer Schüler*innen im Lernen und Arbeiten als Ziel. Wir wissen aber, dass dafür viele Basiskompetenzen erworben werden müssen, dass Arbeitstechniken nie unabhängig von Inhalten vermittelt werden können und dass es dafür eine kontinuierliche, enge und kompetente Begleitung der Kinder über Jahre braucht. Zu vermitteln, dass wir in diesen Ein- und Austrittsphasen Kinder fit für das eigenständige Lernen zu Hause machen könnten, ist eine Irreführung und weckt Erwartungen, die niemand erfüllen kann – zumal diese Zeitspannen ja auch sehr kurz sein können. Dann nämlich, wenn Kinder spät zur Schule kommen und früh abgeholt werden.
Damit Bildung und Lernen gelingen, braucht es bestimmte Bedingungen, die wir mit dem angekündigten Modell in Gefahr sehen.
• Bildung braucht vor allem Beziehung und Zeit. Die Kinder brauchen Beziehungen zu Erwachsenen, zu ihren Lehrern und Lehrerinnen, mit denen sie sich austauschen, von denen sie begleitet, inspiriert, motiviert und in Wissensbestände und Kompetenzen eingeführt werden. Sie brauchen Beziehungen zu anderen Kindern, mit denen sie gemeinsam arbeiten, mit denen sie sich unterhalten und von denen sie lernen. Und dafür braucht es Zeit! Es geht auch nicht darum, in kurzer Zeit Fakten in die Köpfe zu stopfen, die dann auf Knopfdruck wiedergegeben werden. Es geht darum, innere Konzepte aufzubauen, Kompetenzen zu erwerben, einzuüben und zu vertiefen. Auch das braucht Zeit! Und diese Lern- und Entwicklungszeit wird in dem vorgeschlagenen Schulmodell deutlich reduziert.
Egal, wie man es dreht und wendet: Das Recht der Kinder auf Bildung wird mit diesem Modell beschnitten und die Generation der „Corona – Schüler*innen“, die in der Zeit der Schulschließung ohnehin schon auf so vielen Ebenen benachteiligt war, wird weitere Nachteile in Bezug auf ihrer Schulbildung haben. Dass es nicht möglich sein wird, in z.T. der Hälfte der Zeit dasselbe zu lernen oder zu vermitteln wie bisher, liegt unserer Meinung nach auf der Hand. Die Folge: a) Abstriche bei den Inhalten, die im Unterricht behandelt werden und / oder b) Inhalte werden in der Schule unter größerem Druck vermittelt und Übungs- und Vertiefungsphasen aus Zeitmangel an die Familien delegiert.
Dass dabei vor allem Kinder aus bildungsferneren oder belasteten Familien ganz schlechte Karten haben, versteht sich von selbst. Wenn das institutionalisierte Lernen beschnitten wird, wächst die Chancenungleichheit im selben Maß. Wir können beim besten Willen nicht nachvollziehen, welche Vorteile das vorgeschlagene Unterrichtsmodell für die Sicherheit der Kinder und damit der Gesellschaft haben soll. Denn:
• Die Reduzierung der Unterrichtszeiten reduziert das Ansteckungsrisiko nicht im Geringsten. Oder anders formuliert: Ob Kinder fünf Stunden zusammen lernen oder sieben, wird das Ansteckungsrisiko wohl kaum erhöhen, am Nachmittag ist Corona nicht ansteckender als am Vormittag. Was spricht also gegen eine Beibehaltung der bisherigen Unterrichtszeiten, in denen genug Zeit für Bildung und Unterricht ist?
In unseren Augen spricht nicht nur aus pädagogischer Sicht einiges dafür, sondern auch aus dem Blickpunkt der Sicherheit. Die Abläufe in den Familien orientieren sich an den Schulzeiten und eine Kürzung dieser stellt eine Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit, vor allem der Frauen, dar. Um die Auswirkungen der kürzeren Schulzeiten auf die Berufstätigkeit der Eltern aufzufangen, braucht es für den Nachmittag vermehrt Betreuungsangebote für die Kinder. Dort finden sie sich dann in wechselnden Gruppen zusammen und die Durchmischung ist größer als bei stabilen Gruppen in der Schule. Zudem ist der finanzielle und organisatorische Aufwand für die Familien durch eine solche Betreuung der Kinder höher.
• Der Mensadienst kann mit etwas Kreativität und gutem Willen an den Schulen sicher organisiert werden – ob nun in Turnussen gegessen wird, ob die Hälfte der Kinder ein Lunchpaket mitbringt, das in der Klasse oder im Schulhof verzehrt wird, es lassen sich sicher sichere Lösungen finden.
Wenn sich nun aber keine Vorteile in Bezug auf die Sicherheit aus dieser Verkürzung der Unterrichtszeit ergeben, wenn keine nachvollziehbaren epidemiologischen Gründe für diese Maßnahmen ersichtlich sind, dann entsteht der Eindruck, dass durch die Reduzierung der Unterrichtszeiten Lehrer*innenstunden eingespart werden sollen. Da Schulklassen, die in zu kleinen Räumen untergebracht sind und in denen die 1-Meter-Abstand-Regel der Schulbänke nicht eingehalten werden kann, geteilt werden sollen, braucht es mehr Lehrer*innen. Sollen durch die Streichung von Nachmittagsunterricht und Mensa in Wahrheit also zusätzliche Personalkosten vermieden werden? Ist das angestrebte Schulmodell eigentlich eine verdeckte Sparmaßnahme auf Kosten der Kinder?
In den letzten Wochen wurden milliardenschwere Förderpakte für die Wirtschaft geschnürt, die sicher sinnvoll und nötig sind. Mindestens ebenso so sinnvoll und wichtig sind Investitionen in die Bildung der Kinder. Sie stellen unsere Zukunft dar und haben das Recht auf die bestmögliche Bildung und in der bestmöglichen Schule.
Wir fordern die Entscheidungsträger*innen in Politik und Schule dazu auf:
• den Schulbetrieb im Herbst mit Unterrichtszeiten wie vor dem 5. März 2020 zu beginnen – mit Nachmittagsunterricht und Mensa, um den Kindern möglichst viel Bildungszeit zu ermöglichen und die Familien nicht zusätzlich zu belasten.
• sich für einen Unterricht einzusetzen, der den Entwicklunsgsbedürfnissen der Kinder entspricht – sowohl in kognitiver als auch in emotionaler Hinsicht.
• bei auftretenden Schwierigkeiten – z.B. zu kleine Räume – lokal zu handeln und kreativ nach Lösungen zu suchen, die auch etwas kosten dürfen. Jeder Euro, der in die Bildung der Kinder gesteckt wird, ist gut investiert!
• die Schulen und die Lehrpersonen transparent zu informieren in einer Art und Weise, die es ermöglicht, die geplanten Maßnahmen zu verstehen und mittragen zu können.