Von: mk
Brixen – Was kann Robotik, was kann KI in der Kunst leisten? Wie kann Künstliche Intelligenz vielleicht selbst künstlerisch aktiv sein? Dieser Frage ist Hannes Mittermaier, Literaturwissenschaftler und Musiker aus Brixen, nachgegangen. Sein erster großer Song, der von ihm komponiert und produziert wurde, nennt sich “Tabula Rasa” und ist ein E-Gitarrenduett zwischen ihm selbst und Roboter Hellga Tarr.
Die Produktion von Kunst ist abhängig von ihren technischen Möglichkeiten. Diese Einsicht ist Limitation und Herausforderung zugleich. Man muss eben mit den technischen Mitteln arbeiten, die zur Verfügung stehen, oder man nutzt sie dermaßen aus, um damit eine neue Art der Kunst hervorzubringen. Dieser Grundgedanke gehört zur Geburtsstunde von „Tabula Rasa“.
Hannes Mittermaier (30), in München an der Ludwig-Maximilians-Universität Literaturwissenschaft lehrend und darin promovierend, fing während des Corona-Lockdowns ein E-Gitarrenstudium am Berklee, College of Music, in Boston an. Die Online-Version davon, dem Berklee Online-Campus, ermöglichte es ihm, seinen wissenschaftlichen und musikalischen Tätigkeiten in München und seinem Herkunftsort Südtirol nachzugehen.
„Tabula Rasa“ ist schon im Titel ein versteckter Hinweis auf seinen Hang zur Philosophie. Das musikalisierte John Locke-Zitat, das ursprünglich einen erkenntnistheoretischen Seelenzustand beschreibt, ist inzwischen ein geflügeltes Wort. Es steht generell für Neuanfang, für einen „Cut“ und für die Setzung einer neuen Ordnung. „Wenn wir schon technische Mittel haben wie Künstliche Intelligenz oder Robotik–warum sollten wir nicht auf diese zurückgreifen?“, fragt Mittermaier.Im Dezember 2024 schloss er seinen Bachelor am Berklee online ab. Eigentlich war es immer schon ein Bedürfnis von ihm, eigene Musik in die Welt zu schicken. Seine Anfänge in der Musik beschreibt er aus der frühen Kindheit: stundenlang im Auto des Vaters sitzend und die orangefarbene Deep Purple-Kassette hörend. Es war (und ist) ihm derart ein Faszinosum, dass da „aus dem Ding“ ein Schlagzeug, eine Gitarre, eine Stimme und andere Klänge herauskommen könne.
Heute sei das „Ding“ zwar ein anderes, aber die Begeisterung keinen Deut geringer. „Tabula Rasa“ ist der erste große Wurf, der Hannes Mittermaiers musikalische Ideen in die Welt posaunen möchte. Um seine kompositorischen Ideen visuell, aber auch musikalisch zu bekräftigen, schloss er sich Ende letzten Jahres mit Markus Kolb zusammen, dessen Roboter Hellga Tarr die Rhythmusgitarre des über fünf Minutenlangen Songs spielt.
Markus Kolb hat sich als Erbauer des inzwischen im Deutschen Museum in München befindenden Gitarrenroboters Fingers einen Namen gemacht. Gemeinsam mit ihm, seiner „Schwester“ Hellga Tarrund anderen Roboterkollegen tourten die Maschinenmusiker mit „Compressorhead“, gegründet 2013 in Berlin, durch die Lande. Als Hannes Mittermaier zum ersten Mal bei Markus Kolb in Berlin anrief, zeigte sich dieser schnell begeistert.
Musikalisch gesehen, ist „Tabula Rasa“ ein moderner Rocksong, der mit einer ohrwurmverdächtigen Hookline im Chorus daherkommt. Das Metallische und das Hart-Gezielte der Rockmusik passen zur Visualität von Hellga Tarr, aber auch zur Soundfähigkeit der Roboterrockerin. Menschengetreu spielt sie die angezerrten Riffs der Strophe, des Chorus und der Bridge. „Tabula Rasa“ ist aber weit mehr als ein gewöhnlicher Rocksong. Hannes Mittermaier, der auch gleichzeitig seinen Song produziert hat, orientiert sich gerne an modernen Klangkulissen, die er der Welt der Synthesizer entlehnt. Auch das gehöre zu seiner Vorstellung von Musik, die eben alle möglichen technischen Mittel ihrer Zeit nutzen dürfe, ja, nutzen sollte.
Für das Musikvideo, das gemeinsam mit dem Audio am 10. Januar 2025 erschienen ist, hat Hannes Mittermaier mit Oliver Sommer zusammengearbeitet. Der bekannte deutsche Regisseur, der unter anderem mit Künstlern wie Kerstin Ott, Helene Fischer, Sarah Connor und den Scorpions gedreht hat, ist Geschäftsführer der AVA Studios in Berlin. In den Berliner Studios von PRG Cinegate bauten sich Hannes Mittermaier und Hellga Tarr Anfang November 2024 auf, um auf einer mit Details versehenen Bühne den Song zu performen.
Auch hier ist das Crossover aus Mensch und Maschine bemerkenswert: Während Hellga Tarr auf einer unveränderten Gibson SG und großen Marshall 4×12 Cabinets mit zwei Amps spielte, kommen alle Leadgitarrensounds von Hannes Mittermaier aus seinem Laptop. Die Maschine spielt mit „echten“ Gitarrenverstärkern, der Mensch mit „unechten“ Sounds aus dem Computer. Dass es kein Echt und Unecht mehr im digitalen Zeitalter der Musikindustrie gibt, das ist gewiss eine der Botschaften von „Tabula Rasa“.
„Musik ist, was zunächst auf Schallebene Gemeinsamkeit zwischen Menschen (und Maschinen) stiftet. Im Zeitalter der Postmoderne sind dafür prinzipiell alle Mittel erlaubt, weil es eben auch hier kein Richtig oder Falsch mehr gibt. ‚Tabula Rasa‘ ist in dieser Hinsicht eben nicht destruktiv als Neuanfang zu verstehen. Im Gegenteil, denn der Song illustriert eine Art Bestandsaufnahme der technischen Mittel, die unserer Zeit gerade vorliegen. Er schöpft aus diesen, um am Ende ein neues, einzigartiges Kunsterlebnis zu schaffen“, philosophiert Mittermaier.
Kunst wäre ihm zufolge die waffenlose Waffe einer endlich modernen Gesellschaft. Gerade in Zeiten einer globalen Unruhe und Pluralität von Krisen, so Hannes Mittermaier weiter, sei die Existenz und Präsenz von Kunst unentbehrlich. Um wieder ein bisschen ins Staunen zu kommen, so wie Mittermaier damals im Auto, als er nicht verstand, wie die Musik aus den Lautsprechern herauskommt, dieses Staunen wieder zu beleben, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und dadurch zu vereinen – das sei die größte Botschaft von „Tabula Rasa“.
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