Von: apa
Manch Politiker hat bei seinem Einstieg ins Politikgeschäft einen teils krassen Wandel durchlaufen. Doch nur bei wenigen ist er so evident und schwarz auf weiß dokumentiert wie bei J.D. Vance. Bevor er 2023 zum US-Senator und mittlerweile zu Donald Trumps Vizepräsidentschaftskandidat mit der Zuständigkeit für erzkonservative Aussagen wurde, war der Finanzmanager als Bestsellerautor erfolgreich – mit der Geschichte seiner eigenen Familie.
“Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise” ist der deutsche Titel der 2016 erschienenen Memoiren des heute 39-Jährigen – ein kleiner, aber bedeutender Unterschied zum Original. Hier lautet der Untertitel des Klagegedichts nämlich “Die Geschichte EINER Familie”. Vance schildert schließlich seine Familie, bettet deren letztlich tragische Existenz jedoch in einen größeren Kontext ein, nimmt das Schicksal seiner Mutter und Großeltern Pars pro Toto für die abgehängte weiße Unterschicht Amerikas.
J.D. Vance wuchs dort auf, wo die Verfügbarkeit von Drogen hoch, die Gewalt omnipräsent und die Hoffnung verschwunden ist. Die Heimat des späteren republikanischen Shootingstars ist der ländliche Bundesstaat Kentucky, vor allem aber Middletown im Rustbelt-Staat Ohio. Es ist das einstmalige Land der Industrie, das heute von Niedergang und einer ehemaligen Arbeiterschaft geprägt ist, die ihren Stolz, ihr Einkommen und letztlich ihre Würde verloren hat.
Es sind jene Personen, die nicht selten als White Trash tituliert werden, Abgehängte am Abstellgleis der gesellschaftlichen Entwicklung. Vance zeichnet ein Porträt dieser Menschen mit meist schottisch-irischer Abstammung, deren Sitten rau und von Armut als Familienerbe geprägt sind. Der Widerstand gegen Abtreibung und Homosexualität ist Allgemeingut, die Elite in Washington das Feindbild.
Innerfamiliäre Gewalt gehört zum Alltag. Schon seine geliebte Mamaw, die Oma, zündete einst den im Suff auf der Couch liegenden Großvater an. Seine Mutter hat als einzige Konstante im Leben die Drogen, während die Männer monatlich wechseln. Sie ist auf der Schussfahrt ins Verderben. Auf Alkohol folgen harte Drogen und schließlich ein missglückter Suizid. Schläge gehören für J.D. alsbald zum Alltag, auch wenn er sich zugleich von seiner Mutter geliebt fühlt.
Seine burschikose Großmutter Mamaw wird hier zum Rettungsanker. Anders als seine bereits in der Industriestadt aufgewachsene Mutter, eine Vertreterin des “White Trash”, ist Mamaw ein “Hillbilly”, also eher ein Beispiel für die bildungsferne Landbevölkerung. Sie stammt aus Kentucky, das sie als 13-jährige Schwangere verlassen musste. Mamaw liebt Waffen und derbe Sprüche, sie verteidigt die Familienehre bis aufs Blut. Sie ist nicht gebildet, aber hat Herzensbildung. Ihre harte Hand und liebevolle Unterstützung bringen J.D. letztlich auf den richtigen Weg, der ihn zunächst zu den Marines, dann ins College und mit viel Fleiß zum Jusstudium nach Yale bringen wird.
Was ihn in Middletown zum Außenseiter gemacht habe, sei sein Optimismus, schreibt Vance in seinem Buch. Zynismus und fehlende Selbstkritik würden hier als “Vermeidungsstrategien” eingesetzt. Die Probleme würden der Obama-Regierung zugeschoben, Eigenverantwortung ausgeklammert. Vance geht mit seinen Figuren oder besser gesagt Mitmenschen bisweilen hart ins Gericht und bewahrt sich zugleich doch den affirmativen Blick dabei. “Amerikaner nennen sie Hillbillys, Rednecks oder White Trash. Ich nenne sie Nachbarn, Freunde und Verwandte”, schreibt er.
Bei Erscheinen von “Hillbilly Elegy” sprach der “Economist” vom aktuell “wichtigsten Buch über Amerika”. Nicht zuletzt die hymnischen Kritiken befeuerten dessen Aufstieg zu Platz 1 der Bestsellerlisten. Gerade die liberale Elite verstand die Memoiren als Erklärung dafür, weshalb die von ihr als “Bedauerliche” betitelten Menschen der weißen Unterschicht Hillary Clinton den Wahlsieg gekostet hatten.
Die deutsche Übersetzung des Werks, ursprünglich bei Ullstein erschienen, der allerdings die Lizenz auslaufen ließ, war zuletzt vergriffen. Der Münchener Verlag Yes Publishing hat sich allerdings die Rechte gesichert und bringt das Buch nun offiziell am 15. August auf den Markt, als E-Book jedoch bereits am 31. Juli.
Bereits jetzt abrufbar ist hingegen die 2020 erschienene Verfilmung von “Hillbilly Elegy” durch Starregisseur Ron Howard (“A Beautiful Mind”) bei Netflix. Allerdings ist der Film ungeachtet seiner Starbesetzung mit Amy Adams als Mutter und Glenn Close als Mamaw kritisch zu sehen. Howard löscht den zweiten Teil des Untertitels – “Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise” – aus der Erzählung. Die politische Analyse entfällt, es bleibt bei der Familiengeschichte in sich.
So wird der junge J.D. (Gabriel Basso) kurz vor einem wichtigen Bewerbungsgespräch aus Yale nach Hause gerufen, weil seine Mutter (Adams) mit einer Heroinüberdosis im Krankenhaus liegt. Die Gift und Galle speiende Beverly weigert sich jedoch, in die Reha zu gehen. Währenddessen erinnert er sich an die nicht immer schönen Momente seiner Kindheit, in denen er und seine Schwester Lindsay (Haley Bennett) von der Mutter manipuliert, angeschrien oder geschlagen wurden.
Der Film springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Episoden mit der abgebrühten Großmutter (Close) und dem Aufstieg in die finanzielle Elite des Landes. Howards Film verharrt jedoch sehr auf der persönlichen Ebene, nimmt die bewegende Geschichte über die Ungleichheit, die in das amerikanische Leben eingebrannt ist, nicht wirklich auf. Familienmelodram ersetzt Gesellschaftsdrama.
In gewissem Sinne mag das auch der Wandlung des einstigen Autor und nunmehrigen Vizepräsidentschaftskandidaten entsprechen. Positionierte sich der Autor J.D. Vance bei Erscheinen noch als dezidierter Kritiker Donald Trumps, den er als “gefährlich” bezeichnete, wandelte sich diese Haltung nun bis zur Ernennung zum Partner in Crime im Rennen um die Präsidentschaft. Doch das ist eine andere Elegie.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E – www.netflix.com/at/title/81071970 ; “Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise” von J.D. Vance, Ullstein, 304 Seiten, 22,70 Euro)