Von: luk
Bozen – Die Fachtagung „Systemische Kontexte des Missbrauchs“ der Diözese Bozen-Brixen rückte heute im Pastoralzentrum in Bozen Bozen die strukturellen und kulturellen Ursachen von Missbrauch in den Mittelpunkt. Nach Vorträgen der Experten Peter Beer, Alexander Notdurfter und Reinhard Demetz betonte Bischof Ivo Muser die Notwendigkeit einer Umkehr hin zu einer „Kultur der Verantwortung, die die Würde des Menschen, seine Freiheit und sein Leben achtet“.
Bischof Ivo Muser hob in seinem Schlusswort bei der heutigen Tagung hervor, dass Missbrauch nicht isoliert betrachtet werden könne: „Missbrauch, in welcher Form auch immer, fällt nicht vom Himmel und geschieht nicht irgendwo anders, sondern wurzelt in unserer Kultur.“ Dabei verwies er auf die Verantwortung, eine „Kultur der Aufmerksamkeit, der Zivilcourage und der Verantwortung“ zu schaffen, um strukturelle Missstände aufzudecken und systemische Veränderungen einzuleiten. Die Fachtagung sei ein weiterer wichtiger Schritt im diözesanen Projekt „Mut zum Hinsehen“, das auf Prävention, Teilhabe und einen offenen Dialog setzt.
Analysen der Experten
Professor Peter Beer, Wissenschaftler am Institut für Anthropologie in Rom und Mitglied der diözesanen Steuerungsgruppe für das Projekt „Mut zum Hinsehen“, erläuterte, dass eine systemische Sichtweise besonders auf Zusammenhänge und Wechselwirkungen abzielt, die in Institutionen Prozesse, Effekte und Sachverhalte verstärken oder hemmen können. „Im Kontext der Missbrauchsfälle im Verantwortungsbereich der Kirche macht eine systemische Sichtweise deutlich, dass in Sachen Aufarbeitung die bloße Konzentration auf die einzelnen Täter oder Vertuscher zu kurz greift.“ Um Missbrauch wirklich aufzuarbeiten und zukünftige Vorfälle bestmöglich zu verhindern, sei es erforderlich, „unterschiedlichste Faktoren in den Blick zu nehmen und in differenzierter Weise zu bearbeiten“.
Pastoraltheologe Professor Alexander Notdurfter ging auf die soziologischen Dimensionen ein und wies auf die oft tiefgreifenden Erschütterungen hin, die das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexten auslöst. „Reaktionen reichen von ,das gibt’s nicht‘ bis ,endlich geschieht etwas‘“, erklärte er. Notdurfter rief zu einem grundlegenden Nachdenken über Machtstrukturen und systemische Bedingungen auf, die sowohl Veränderungen in der Haltung als auch in den Strukturen notwendig mache. „Nur durch diese Weichenstellungen können Vertrauen und Glaubwürdigkeit wiederhergestellt werden“, sagte Notdurfter.
Reinhard Demetz, Leiter des Seelsorgeamts der Diözese, betonte die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels der Kirche. „Wir müssen die Sprachlosigkeit, die mit Missbrauch einhergeht, überwinden, aber gleichzeitig lernen, das Leid der Betroffenen auszuhalten und präsent zu bleiben – manchmal auch sprachlos, aber aufmerksam und bereit, Veränderungen zu ermöglichen.“ Er erklärte, dass die Kirche durch das Thema Missbrauch gezwungen sei, ihre „Fassade der Unfehlbarkeit“ abzulegen, was Raum für eine authentische Erneuerung schaffe. „Eine Organisation, die Missbrauch begünstigt und vertuscht, ist kein Zeugnis für das Reich Gottes. Die Transformation, die wir jetzt einleiten, wird die Kirche nicht nur zu einem sicheren Ort machen, sondern auch ihrem Auftrag, Gottes Liebe zu bezeugen, gerecht werden“, zeigt sich Demetz überzeugt.
Visionen für eine zukunftsfähige Kirche
Bischof Ivo Muser formulierte am Ende der Tagung seine Vision für eine zukunftsfähige Kirche: „In meiner Vision wird eine Kultur der Verantwortung gepflegt, die die Würde des Menschen, seine Freiheit und sein Leben achtet und dem Gemeinwohl verpflichtet ist.“ Dabei unterstrich er die Bedeutung einer offenen, selbstkritischen und dialogorientierten Haltung. Es gehe darum, Strukturen so zu verändern, dass die Kirche ein sicherer Ort für Kinder, Jugendliche und schutzbedürftige Menschen ist.
Zentral sei auch die Rolle der Sprache und Haltung: „Durch klare Vorgaben und eine veränderte Sprache und Haltung wird dem Missbrauch der Nährboden entzogen“, betonte Muser. Er rief dazu auf, eine Mentalitätsänderung zu vollziehen, die eine „Kultur des Todes“ – wie Papst Franziskus sagt – in eine Kultur der Würde und des Lebens verwandle.
Neben den Vorträgen und dem Ausblick des Bischofs boten Resonanzgruppen den über 100 Teilnehmenden Raum, über die Impulse der Referenten zu reflektieren und Ideen für eine kirchliche Transformation zu entwickeln.
Aktuell sind 0 Kommentare vorhanden
Kommentare anzeigen