Von: APA/dpa
Der Mann ist verloren. Das ist im bitteren Antikriegsstück “Der Diplomat”, das am Freitag die Nibelungen-Festspiele eröffnet hat, schnell klar. Mit blutverschmiertem Schwert und strähnigen Haaren stapft der kriegsmüde Dietrich von Bern durch den Schlamm der Schlachtfelder. Es ist der Beginn eines intrigenreichen Dramas über Mordlust und Missgunst. Die Überlebenden stehen am Ende vor den Trümmern ihrer Träume – und vor neuer Gewalt. Statt Ruhm bleiben bloß Schmutz und Schmerz.
Bei langsam verglühendem Abendlicht prallen auf der Freilichtbühne vor dem Kaiserdom in Worms die Lebenswelten mit Wucht aufeinander. Das Nibelungenlied über Drachentöter Siegfried und seinen Mörder Hagen, eine der Lieblingssagen der Deutschen, trieft vor Hass. Und nun Diplomatie? In Zeiten von Ukraine-Krieg und Nahost-Krise klingt der Titel wie eine Provokation. Intendant Nico Hofmann lacht. “Als wir vor drei Jahren begonnen haben, das Stück zu entwickeln, waren die Tendenzen nicht vorhersehbar. Nun aber passt es genau.”
Das bildstarke Drama beginnt am Frontverlauf. Rüstungen liegen im Schlamm und schnell auch drei Leichen. Todeszone, Endzeitstimmung. Für Dietrich von Bern ist es genug. Schluss mit Kadavergehorsam: “Ich schicke Männer in den Tod.” Der König bricht den Feldzug ab. Sein Waffenmeister Hildebrand ist entsetzt. “Unser Krieg ist gerecht.” Doch Dietrich will die perverse Logik durchbrechen. Er verzichtet auf Sieg, Triumph und Krone – und will vermitteln. Hildenbrand ist fassungslos. “Die Männer werden sich fragen: Wofür habe ich gekämpft?”
Premiere an einem Kriegstag in Europa: Das gibt dem Stück auch eine politische Note. Ähnlichkeiten mit der tatsächlichen Lage sind nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. In ihrer Rede zieht die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) Parallelen zur Ukraine. Allzu offensichtliche Anspielungen sparen sich die Autoren Feridun Zaimoğlu und Günter Senkel. Gelegentlich schimmern aber aktuelle Themen durch das mittelalterliche Epos. Wehrpflicht, Aufrüstung, Zeitenwende: Das erscheint an diesem Abend in einem beunruhigenden Licht.
Regisseur Roger Vontobel inszeniert das Stück in Worms als düsteres Sittengemälde des Nibelungen-Mythos mit Schwert- und Feuerästhetik. Mit Bühnenbildner Palle Steen Christensen erschafft er einen degenerierten Königshof, in dessen Mitte Siegfrieds aufgebahrte Leiche unablässig blutet. Eine Bühne voller Blut – mit Gummischiebern wird es in den Schlamm gewischt.
Auf der Fassade des Doms strahlen Videoprojektionen. Eine niederträchtige Bagage stolpert auf der Bühne durch das grausame Märchen. Auf dem Weg zu Antworten findet das Ensemble in dem rund dreistündigen Spektakel in einer der ältesten Städte Deutschlands bloß weitere Fragen. Im Krieg sterben – soweit die Theorie – immer nur die anderen.
Als Bote wird der desillusionierte Dietrich zu Kriemhild geschickt, um für den Hunnenkönig um ihre Hand anzuhalten. Das soll den Krieg verhindern. Dietrich, eine der bekanntesten Sagenfiguren des deutschen Hoch- und Spätmittelalters, gerät in die Zwickmühle seiner persönlichen Geschichte und der drohenden Eskalation. Es ist eine wahnwitzige Mission. Doch – ist nicht alles besser als der Krieg? Auch, wenn es ein Diktatfrieden ist?
Franz Pätzold (“Werk ohne Autor”) spielt Dietrich wunderbar doppelbödig. Stark sind auch die Auftritte von “Tatort”-Ermittlerin Jasna Fritzi Bauer als rachsüchtige Kriemhild. Thomas Loibl (“Toni Erdmann”) brilliert als graue Eminenz Hagen. Die Darstellung von Yohanna Schwertfeger als Brunhild ist betörend. Und Marta Kizyma wirkt als Kriegerin Witta furios.
Besondere Momente gelingen Cynthia Cosima Erhardt, die als Dämonin Drud dem Antihelden Dietrich singend entgegenschleudert: “You cannot escape!” Von den rund 1.400 Zuschauern gibt es viel Applaus für das Stück, das manchmal auf der Stelle tritt. Alles alter Stoff? Wohl nicht: Im Herbst kommt die Großproduktion “Hagen – Im Tal der Nibelungen” in die Kinos.
In Worms ist “Der Diplomat” bis 28. Juli zu sehen. Für Intendant Hofmann ist es die erste Inszenierung seit der Verlängerung seines Vertrags bis 2028. Der Kurpfälzer trat 2015 die Nachfolge von Dieter Wedel mit dem Konzept an, jährlich ein neues Werk aufzuführen. Auch 2025 dürfte den Festspielen viel Aufmerksamkeit gelten. Derzeit schreibt Deutschlands wohl meistgespielter Dramatiker Roland Schimmelpfennig das Stück “See voller Asche” für Worms.
(Von Wolfgang Jung/dpa)
(S E R V I C E – www.nibelungenfestspiele.de)