Von: ka
Bozen/Bruneck – “Die Zeichen stehen auf Sturm, Italien hat einen der stärksten Zuwächse an Coronainfektionen Europas, und Südtirol ist einer der Spitzenreiter dieser nationalen Rate”, so Roger Pycha und Sabine Cagol im Namen der Einsatzleitung von PSYHELP Covid 19.
Wir sind ein freiheitsliebendes Land, mit wehrhaften Bewohnern, die sich 1809 gegen jede politische Vernunft zum isolierten Widerstand entschlossen hatten. Letzthin haben sich viele Junge und einige jugendlich Wirkende zum Unkenruf gegen Freiheitsbeschränkungen entschlossen, die Immuni-App abgelehnt, auch öffentlich Feste gefeiert und demonstrativ viele andere Menschen umarmt. Einzelne sind bekanntermaßen infiziert herumgelaufen. Sie sind nicht die gefährlichsten, da identifizierbar. Wirklich gefährlich im Herbst werden die Sozialwilderer. Sie kennen die Regeln, lehnen sie heimlich ab, brechen sie ohne zu protestieren. Sie organisieren klandestine Feste im Freundeskreis hinter verschlossenen Türen, sobald das Wetter uns weg aus dem Freien zwingt und die Überlebenszeit des Virus verlängert. Dort nähern sie sich distanzarm anderen, schütteln Hände, umarmen lange und innig, drücken sich an fremde Körper, tauschen Küsse aus wie früher, Sehnsucht nach der alten Zeit. Wenn andere zurückzucken, berühren sie sie dennoch und schaffen eine Stimmung gemeinsamer Risikobereitschaft, reißen Zögernde mit. Einmal ist keinmal, es wird wohl nichts passiert sein. Ist der Bann erst gebrochen, hat man ein Gemeinschaftsgefühl wir gegen die Regeln der Vernunft und den Rest der Welt, und das schweißt zusammen. Man könnte auch sagen: Verbreitungsgemeinschaft für ein möglicherweise vom Aussterben bedrohtes Virus. Biologische Chance, weniger virulente Stämme länger und weiter zu streuen (Ein rasch krank machender Stamm verbreitet sich selbst unter wenig vorsichtigen Menschen nicht so leicht).
Corona hat unsere sozialen Regeln so sehr verändert, dass wir das Ausmaß fast nicht ermessen. Biologisch können wir den Erreger noch nicht besiegen, und psychologisch sind wir nicht für konstantes Verhalten gerüstet. Unser Gehirn, unsere Erlebnisse, selbst unsere Erinnerungen sind laufend neuen Konstruktionen ausgesetzt. Wir nennen das auch Intelligenz, gepaart mit Neugier. Was wir in dieser Lage aber benötigen, ist Metaintelligenz. Antwort auf die Frage: Wie setzen wir unsere Intelligenz so ein, dass sie schützt und nützt? Wir brauchen Bewegung und Freiheit und Kontakte, das sind Wege zum Glück. Wie nehmen wir das langweilige Sicherheitsbedürfnis mit auf diesen Weg? Wenn es ganz zu kurz kommt, wenn die blanke Angst herrscht, dann ordnen wir alles ihm unter, psychischer lockdown. Wenn es zeitweilig komplett und zeitweilig gar nicht zum Zuge kommt, leben wir psychisch verunsichert, und riskieren ein bisschen, selbst Kompatscher, Steinmair und junge Musikantinnen. Erst wenn wir imstande sind, Regeln konstant zu befolgen, und auf dieser Basis Freiheiten zu genießen, haben wir unsere Intelligenz voll entfaltet. Der Arzt Ignaz Semmelweis hat Millionen Gebärenden das Leben gerettet, weil er den Medizinern verbot, mit vom Leichenaufschneiden infizierten Händen Geburtshelfer zu sein. Das Wundbettfieber wurde seltener, das Gebären im Krankenhaus kein russisches Roulette mehr, die Ärzte keine Gefahr. Sie haben heute saubere, gewaschene, latexgeschützte Hände. Die Muttersterblichkeit um die Geburt sank zwischen 1760 und 2010 auf ein Dreihundertstel, von 1,2 Prozent auf 0,004 Prozent. Das ist Metaintelligenz der Menschheit.
Jetzt diktiert Corona neues Sozialverhalten. In Städten und allen Innenräumen Masken, Nasen immer mit bedeckt. Hände möglichst weg von Augen, Mund und Nase – das ist ungewohnt, da wir uns alle unbewusst immer wieder selbst anfassen, weil wir uns nicht sehen können. Wir kontrollieren gern unser Aussehen durch Betasten, weisen andere auf unsere Mundpartie hin, vor allem wenn sie Zuneigung oder Schmollen ausdrücken soll, und reiben uns vor Müdigkeit oder Verwunderung die Augen. All das sollte jetzt wegfallen. Wenn wir jetzt lächeln, dann markant, damit man die Fältchen um Augen und Wangen durch den Mund-Nasenschutz erkennen kann. In Coronazeiten lachen vor allem die Augen.
Auch die Nähe und Distanz müssen wir neu regeln. Beim Begrüßen heißt es, mündlich abklären, ob man sich zuwinkt (sicher), Kusshändchen zuwirft (innig), die Ellbogen berührt (sportlich), die Füße anstößt (nicht mit jedem Frauenschuh geeignet), lächelt oder nur hallo sagt, fragt wer was will und was das bedeutet. Damit wird Begrüßung aus anderen Gründen ähnlich kompliziert wie am Hofe des Sonnenkönigs. Der Abschied umfasst bei engen Familienangehörigen manchmal eine kurze Umarmung, selbst wenn man nicht direkt zusammenlebt. Kalkuliertes 3-Sekunden-Infektionsrisiko, wenns niemand sonst sieht oder übel nimmt, selten und bei ganz wenigen Menschen. Vielleicht hat Landesrat Widmann sich so angesteckt. Die engen Grenzen der Kernfamilie werden jedenfalls deutlicher.
Schwierige Zeiten deshalb für heimlich zusätzlich Liebende, in Dreiecksbeziehungen Verharrende, Seitenspringende, Mingles mit Wechseltrieb, Polyamouröse, Intensivmassagebedürftige und andere Freigeister. All diese Freiheiten sollten allen auch passiv Beteiligten eröffnet werden. Damit verlieren sie zwei Drittel ihres Reizes.
Ebenso Schwierigkeiten für Geschäftstüchtige in dem Bereich. Eskortservice benötigt jetzt nicht nur AIDS-Test sondern auch PCR-Abstrich, Prostitution und Zuhälterei werden in potentiell infektiöse Nischen gedrängt, die Substanzsüchtigen stellen ganz bewusst von Nadeln und Inhalationspulver auf penibel verpackte Tabletten um, Alkohol wird nur mehr aus sauberen eigenen Gläsern getrunken. Superalkohol könnte zwar selbst desinfizieren, aber am Glasrand kleben vielleicht Viren. Schöne neue Welt.
Das Händewaschen, Händereiben wird zur Beruhigungsstrategie. Es soll zeigen, dass man etwas tun kann, kleine häufige Schritte eben. Was aber, wenn andere maskenlos zu nahe aufrücken, laut herumschreien, tief in unsere Richtung ausatmen oder zu langsam an uns vorbeijoggen? Wenn sie nur den Mund bedecken, oder, wie in China üblich, notorisch ausspucken?
Wir müssen uns wehren dürfen. Verbal oder durch Zeichen. Es muss erlaubt sein zu sagen, mir kommt vor, Sie riskieren meine, unsere, Gesundheit. Wäre Ihnen möglich, Abstand zu halten, den Mund-Nasenschutz zurechtzurücken, Ihre Hände zu desinfizieren, mich nicht zu berühren? Oder wir tippen mit dem Zeigefinger an unsere eigene verdeckte Nase, wenn jemand vergisst, die seine zu verhüllen. Wir strecken die Hand hoch, mit zum Himmel gerichteten Zeigefinger, wenn gefährliches Gedränge mit zu wenig Masken entsteht. Dann sind mehrere Beteiligte bemüht, es zu entwirren, jeder kontrolliert, ob er gemeint ist und was er tun kann. Das ist wie eine sofort wirksame Immuni-App.
Auf jeden Fall gehört Immuni auch zum neuen Alltag. Angela Merkel hat gemeint, wenn Deutschland zu 60 Prozent Covid-durchseucht ist (immunisiert klingt neuerdings besser), besteht keine große Infektionsketten-Gefahr mehr. Erweitern wir das Bild: Wenn 60 Prozent aller Südtiroler, Italiener, Europäer eine App wie Immuni aktiv nutzen, und ihren Empfehlungen folgen, entsteht derselbe Effekt, Infektionsketten werden früh erkannt. Nur ohne dass 60 Prozent der Menschen die Virusinformation in die eigenen Zellen einbauen müssen.
Vielleicht ist das alles im Sommer noch nicht so virulent. Der Erreger erscheint hitzeempfindlich. Aber im Herbst, mit Schnupfen und Grippe und Angst und einem Verwirrspiel nicht mehr leicht unterscheidbarer Krankheiten, mit vorsichtigen langen Krankenständen, Quarantänen und nicht rasch negativ werdenden PCR-Tests, mit Flöhen und Läusen, also Corona und Influenza gleichzeitig, ist biologische und psychosoziale Hitze bei klimatischer Abkühlung vorprogrammiert. Der Herbst wird diesmal heißer als der Sommer.