Von: mk
Bozen – Die italienische Kolonialgeschichte wird in Südtirol wenig thematisiert. In einem Versuch, dieses düstere Kapitel der Geschichte aufzuarbeiten, führte die Klasse 4B des Liceo Pascoli in Bozen gestern ein groß angelegtes Rollenspiel unter der Anleitung der OEW-Organisation für Eine solidarische Welt durch.
Die Schülerinnen und Schüler simulierten eine Verhandlung des Internationalen Strafgerichtshofs und untersuchten die Kriegshandlungen des Südtiroler Soldaten Otto Eisenpfeil (Name abgeändert) während des italienisch-faschistischen Angriffs auf Abessinien. Am Ende der Verhandlung erklärten die Schülerinnen und Schüler den Angeklagten für schuldig „an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit”.
Diese besondere Form der Geschichtsaufarbeitung ermöglichte den Schülerinnen und Schülern einerseits eine intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen und den Auswirkungen italienischer Kolonialherrschaft. Andererseits wurde zum ersten Mal ein symbolisches Urteil über die grausame Militärtaktik im italienischen Kolonialgeschehen gefällt, an dem auch Südtirol seinen Teil trug.
„Das Urteil ist sehr wichtig”, bestätigte Alessia Giacomelli, Schülerin und im Rollenspiel Teil der Staatsanwaltschaft. „Es ist ein erster Schritt hin zu einer Gerechtigkeit, die bisher nicht hergestellt wurde.“
Denn: Südtirol stellte Mussolini für seine Afrika-Feldzüge fast 1.200 Personen. Der verhandelte Fall “Eisenpfeil” basiert auf Quellen aus dem Südtiroler Landesarchiv, darunter die Abschrift eines Kriegstagebuchs, das ein deutschsprachiger Südtiroler 40 Jahre nach seinem Einsatz in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, anfertigte. Zwischen 1936 und 1938 stieg er – auf eigene Initiative – zum Leiter eines Maschinengewehr-Bataillons auf. Für seine Tapferkeit, „Kameradschaft“ und „Todesverachtung“ erhielt er militärische Auszeichnungen und wurde, wie auch ein Bericht der Alpenzeitung zeigt, von seinen Landsleuten als Kriegsheld gefeiert. Erstaunlicherweise finden sich in seinen Aufzeichnungen jedoch kaum Hinweise auf Kriegshandlungen.
Gianluca Sartori, Schüler und im Rollenspiel Anwalt, erklärte dazu: „Geschichte zu studieren bedeutet auch, zu verstehen, was falsch war, und darüber nachzudenken, was in Zukunft besser gemacht werden kann. Das Wissen um die eigene Vergangenheit formt die Identität und Kultur Italiens.“
Obwohl die italienische Kolonialgeschichte in der Bevölkerung wenig präsent ist, gibt es eine detaillierte historische Aufarbeitung. Diese belegt, dass Italien unter Mussolini mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen den abessinischen Widerstand vorging und dabei auch vor der Zivilbevölkerung nicht Halt machte. Es kam – auch auf Befehl des “Duce” – zu einem weitreichenden Einsatz von Giftgas, zu Folter, Mord, Plünderungen und zahlreichen weiteren Verbrechen.
„Aus der Sicht der Opfer erreichen wir endlich Gerechtigkeit für das, was wir erlitten haben. Gleichzeitig ist es wichtig, das Bewusstsein der anderen Seite für die in der Vergangenheit verursachten Schäden zu schärfen, die auch heute noch zu einem Ungleichgewicht in den Beziehungen zwischen Völkern und Ländern führen,“ erläuterte Fernando Biague, der bei der Gerichtsverhandlung als Experte für die OEW präsent war. Der in Brixen lebende Psychologe ist in Guinea-Bissau aufgewachsen und hat dort als Kind die Gräuel der portugiesischen Kolonialherrschaft erlebt.
Da sich bis heute viele der Verbrechen, die auch schon während der klassischen Kolonialzeit begangen wurden, wiederholen, war die Auseinandersetzung der Schüler*innen mit dem internationalen Strafrecht auch in Hinblick auf aktuelle Ereignisse wie die Geschehnisse in Palästina von großer Bedeutung.
Obwohl der Fall “Eisenpfeil” in der Vergangenheit liegt und über Verstorbene nicht mehr gerichtet werden kann, hat die Verhandlung der Schülerinnen und Schüler großen symbolischen Wert. Sie trägt zur Einschätzung des Leids bei, zu dem der Kolonialismus beigetragen hat, und ermöglicht den Opfern posthum Gerechtigkeit. Gleichzeitig beeinflusst sie das Südtiroler Selbstbild, denn die Auseinandersetzung mit Geschichte formt auch die Vorstellung von der eigenen Identität.
„Es macht mir große Hoffnung mitzuerleben, mit welchem Mut und welcher Tiefe sich junge Menschen heute dieser schwierigen Frage nach der historischen Verantwortung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellen“, sagte Adrian Luncke, Projektleiter der OEW. „Diese Fragen sind unbequem, tragen aber zu einem besseren Verständnis von der eigenen Identität und der eigenen Rolle in der Welt bei.“
Am Ende verhängte die Klasse 17 Jahre Haft und Wiedergutmachungszahlungen.