Von: apa
Es ist wahrscheinlich eine der gewagtesten Literaturverfilmungen der vergangenen Jahrzehnte. Ab dem 11. Dezember zeigt der Streamingdienst Netflix die erste Filmfassung des Epochenromans “Hundert Jahre Einsamkeit”. Es handelt sich um eine 16-teilige Miniserie. Die Spannung ist groß.
Aber die Befürchtungen vieler “Gabo”-Fans sind noch größer. Selbst Gabriel García Márquez wehrte sich zeitlebens gegen eine Verfilmung seines Bestsellers, der ihm 1967 Weltruhm und 1982 unter anderem den Literaturnobelpreis bescherte. Dabei war die Geschichte vom Schicksal mehrerer Generationen der Familie Buendía und des von ihr gegründeten Dorfes Macondo sogar fürs Kino angelegt.
García Márquez erhielt von Filmwelt Absagen
“Gabo, wie wir ihn hier in Kolumbien nennen, zog 1961 nach Mexiko-Stadt, dem damaligen Zentrum der spanischsprachigen Filmindustrie in Lateinamerika. Er wollte unbedingt Filme machen, legte auch die Geschichte der Buendías als Drehbuch an, erhielt aber nur Absagen”, erklärt Orlando Oliveros von der García Márquez Stiftung in Cartagena de Indias im Gespräch mit der APA. Schließlich schrieb Gabo “Hundert Jahre Einsamkeit” als Roman, der ihn auf den Literaturolymp katapultierte. Mit weltweit über 50 Millionen verkauften Exemplaren in 46 Sprachen ist sein Meisterwerk nach Cervantes “Don Quijote” das meistgelesene Buch eines spanischsprachigen Autors.
Der Roman, der heute als Musterbeispiel für den literarischen Stil des “magischen Realismus” gilt, besticht zwar durch eine bildstarke Sprache, was einer Verfilmung entgegenkäme. Aber es handelt sich auch um ein extrem vielschichtiges Werk mit vielen Figuren, viel Symbolismus und in dem sich wahre Geschehnisse aus der kolumbianischen Geschichte mit surrealen und fantastischen Begebenheiten vermischen.
So hatte Gabo kein Problem damit, “Chronik eines angekündigten Todes” und “Liebe in den Zeiten der Cholera” auf die große Leinwand bringen zu lassen. Doch sein Meisterwerk sei einfach zu komplex für eine Verfilmung, meinte der Schriftsteller stets.
Netflix überzeugte die Kinder des Autors
Nach seinem Tod 2014 konnte Netflix jedoch Gabos Kinder als Co-Produzenten gewinnen und die Filmrechte erwerben. Orlando Oliveros hat bereits im Vorfeld die erste Staffel gesehen. “Die Serie ist in Ordnung. Doch das Buch wird immer eine andere Erfahrung bleiben”, meint Oliveros. “Hundert Jahre Einsamkeit” war so erfolgreich, weil der Roman universale Themen wie Liebe, Macht, Tod und Einsamkeit anspreche, dem Leser jedoch eine enorm große Interpretationsfreiheit gäbe. “Mit der Serie werden viele Menschen aber nur noch die Bilder der Netflix-Version und die Gesichter der Schauspieler vor Augen haben, wenn sie an Ursula oder den Oberst Aureliano denken”, beklagt Oliveros.
Wer Gabos “magischen Realismus”, seine fantastischen Symbole und Momente besser verstehen möchte, sollte lieber in seine karibische Heimat im Norden Kolumbiens kommen. “Wer die Menschen, ihre Lebensweise, ihre Traditionen, ihre Musik und Volksgeschichten kennt, wird auch Macondo und die Romanfigur besser verstehen”, versprich Oliveros. Macondo sei zwar ein fiktiver Ort, doch an vielen Orten spür- und lokalisierbar, meint der Gabo-Experte.
Gabos Kindheit als primäre Inspirationsquelle
Das karibische Flair, die pastellfarbenen Kolonialhäuser mit blumengeschmückten Holzbalkonen – Cartagena de Indias quirlige Altstadt, in der Gabo wohnte und wo seine Kinder immer noch leben, sei in vielen von Gabos Romanen wiederzufinden. Doch vor allem im schwülen karibischen Hinterland fände man “überall Macondo”.
Natürlich auch in Aracataca am Rande von Bananenplantagen und den Gebirgszügen der Sierra Nevada, wo Gabo am 6. März 1927 geboren wurde und aufwuchs. “Nahezu mein gesamtes Werk wurde von den ersten Jahren meiner Kindheit beeinflusst…”, sagte er selbst einmal. Sein Geburtshausmuseum ist eine kleine Zeitreise ins Aracataca, das Gabo noch erlebte. Selbst der Holzständer, auf dem Gabos Großmutter die auch im Roman vorkommenden Karamelltierchen trocknete, ist noch zu sehen.
Auf der Montessori-Schule lernte der kleine “Gabito” lesen, schreiben und die Literatur lieben. Seiner damaligen Literaturlehrerin, in die er verliebt war, erwähnte er sogar 1982 bei seiner Nobelpreisrede in Stockholm. Auf dem Hauptplatz steht die Kirche San José, in welcher Gabo getauft wurde, aber nicht lange Messdiener sein durfte, weil er ständig die Glocken läuten ließ. Sogar den Namen “Macondo” entlehnte er einer nahen Bananenfinca.
Santa Cruz de Mompox als Vorbild für Macondo
Die meisten Leser werden Macondo aber wohl eher in Santa Cruz de Mompox wiedererkennen. Nicht ohne Grund verfilmte hier der bekannte italienische Regisseur Francesco Rosi 1987 Gabos “Chronik eines angekündigten Todes”. Wie das fiktive Macondo war auch Mompox bis vor einigen Jahrzehnten durch Sümpfe und Lagunen vom Rest der Welt isoliert. Dadurch blieb die 1995 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärte Ortschaft bis heute ein Juwel spanischer Kolonialarchitektur.
Zur Kolonialzeit war der heute verschlafene Ort durch seine Lage am Magdalena-Fluss aber ein Umschlagplatz für Gold aus Südamerika. So findet man heute noch zahlreiche Gold- und Silberschmieden in Mompox. Hier erfand der Goldschmiedkünstler Luis Guillermo Trespalacios in den 50er Jahren die durch Gabo landesweit bekannten Goldfisch-Amulette, welche Oberst Aureliano in “Hundert Jahre Einsamkeit” fertigte, um gegen seine Einsamkeit zu kämpfen. Gabo kannte die Goldfische und Mompox durch seine Frau Mercedes Barcha, die hier auf eine Klosterschule ging.
Bananenmassaker wurde im Roman verarbeitet
In der Küstenstadt Ciénaga, wo Gabos Großvater als Soldat lebte, fand 1928 hingegen das von Regierungstruppen und der amerikanischen United Fruit Company verübte “Bananenmassaker” an streikenden Plantagenarbeitern statt, auf welche Gabo in seinem Roman eingeht. An kaum einem Ort kommt man jedoch Gabos magisch-fantastischen Romanszenen näher als in “Nueva Venecia”, einem schwimmenden Dorf in der Ciénaga-Küstenlagune, die auch Gabo bereiste. Das von Mangrovenwäldern umgebende Fischerdorf ist eine idyllisch friedliche, aber nahezu surreale Welt, in der es noch von karibisch-ekstatischer Trommelmusik begleitete Exorzismen gibt und an Lagunengeister glaubende Fischer. Gabos “magischer Realismus” lässt grüßen.
Die Musik der Karibik spielt auch in “Hundert Jahre Einsamkeit” eine Rolle. Am besten lernt man sie in der Küstenstadt Barranquilla auf der anderen Lagunenseite kennen. Die Heimatstadt von Popsängerin Shakira war schon zu Gabos Zeiten Kolumbiens Musik- und Partyhochburg. Hier verbrachte er während seiner Zeit in der Zeitung “El Heraldo” seine “wilden Jahre”. Seine trinkfeste Künstlergruppe um Álvaro Cepeda, Alfonso Fuenmayor, Germán Vargas und Ramón Vinyes, die ihn literarisch sehr beeinflusste kommt sogar im letzten Teil von “Hundert Jahre Einsamkeit” vor, in dem Macondo zu einer Stadt wird, bei der sich Gabo nach eigenen Aussagen in Barranquilla inspirierte.
“Ich wäre auf jeden Fall Schriftsteller geworden. Aber wäre ich nicht in Barranquilla gewesen, wäre ich ganz anders geworden…”, sagte er einmal. Ob die nun auf Netflix startende Miniserie der Literaturvorlage gerecht wird, bleibt abzuwarten. Fest steht: In Gabos kolumbianischer Karibik kommt man seinem “magischen Realismus” sehr nahe.
(Von Manuel Meyer/APA)
(S E R V I C E – https://colombia.travel/de/santa-marta/aracataca-und-garcia-marquez)
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