Von: apa
Die “F.A.Z.” nennt ihn den “Tim Burton des französischen Theaters”, und bis ihm eine Seriensiegerin oder ein Sportheld den Rang abläuft, darf er sich wohl als König der Olympischen Spiele 2024 fühlen: Der Schauspieler und Regisseur Thomas Jolly ist der künstlerische Leiter der Eröffnungs- und Schlusszeremonie. Der 26. Juli soll alles Bisherige in den Schatten stellen und wird seine bisher größte Inszenierungsaufgabe. Dabei ist der 42-Jährige große Spektakel durchaus gewohnt.
Legendär wurde etwa sein achtzehnstündiger Theatermarathon rund um Shakespeares “Henry VI”-Trilogie 2014 beim Festival d’Avignon, der um zehn Uhr morgens begann und am nächsten Tag um vier Uhr morgens endete. Seither gilt er als Spezialist für das Außergewöhnliche, für das souveräne Beherrschen von Effekten, die auch das breite Publikum in den Bann ziehen. Nun darf er seine Kunst an einem denkbar ungewöhnlichen Schauplatz unter Beweis stellen: Die Olympia-Eröffnungsfeier findet auf dem Fluss statt, mit der Stadt Paris als Kulisse und rund 160 Booten als schwimmende Bühnen auf der sechs Kilometer langen Strecke zwischen dem Pont d’Austerlitz und dem Pont d’Iénar. “Mettre la Seine en scène” (“die Seine inszenieren”) nennt er das. 137 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung.
Als er die Jobanfrage erhielt, soll Jolly, überwältigt von der ihm gebotenen Jahrhundertchance, als erstes unter Tränen seine Mutter angerufen haben. Mittlerweile gibt er, das Seine-Ufer entlangspazierend, übersprudelnde Fernsehinterviews und wirkt dabei wie ein großer Bub, dem der Besuch eines Abenteuerspielplatzes geschenkt wurde. Die “schönste Stadt der Welt” mit Athleten aus aller Welt und ihren vielfältigen Sportarten in Verbindung zu bringen sei eine faszinierende Aufgabe, referiert er dabei – nie ohne den Hinweis zu vergessen, dass alles buchstäblich im Fluss sei. Dabei macht vor allem die Sicherheitslage Sorgen. Die vorgesehene Zuschauerzahl wurde bereits auf 326.000 reduziert, die Zahl der Polizisten auf 45.000 erhöht. Sollten akute Terrorwarnungen es nötig machen, fällt das Spektakel nicht ins Wasser, sondern wird ins Trockene geholt – nämlich ins Stade de France.
Zurück zu Thomas Jolly: Geboren 1982 in Rouen stand er mit elf Jahren erstmals auf der Bühne, besuchte im Lycée eine Theaterklasse und später Universitäten und Theaterschulen in Caen und Rennes, wo er auch erste eigene Theatergruppen gründete, spielte und inszenierte. 2006 war er Mitbegründer der Truppe La Piccola Familia. Nach Inszenierungen von Stücken von Marivaux oder Mark Ravenhill begann er 2010 an seinem “Henry VI”-Projekt zu arbeiten, das immer größere Formen annahm und 2015 mit einem Molière-Regiepreis ausgezeichnet wurde. Dazu kreierte er die 45-minütige Pocket-Version “H6m2”, die Lust aufs große Ganze machen sollte.
2014 wurde er artiste associé am Théâtre national de Bretagne in Rennes, zwei Jahre später am Théâtre national de Strasbourg. 2016 inszenierte er an der Pariser Oper mit “Eliogabalo” von Francesco Cavalli seine erste Oper. 2020 übernahm er die Leitung des Centre Dramatique National “Le Quai” in Angers – eine Position, die er nach einer Olympia-Nominierung zurücklegte. Zuvor verwirklichte er hier jedoch seinen Traum, “Henry VI” mit “Richard III” zu einer 24-stündigen Tetralogie zu ergänzen.
Dem Großformat bleib Jolly auch in der Folge treu. Im Herbst 2022 hatte seine Inszenierung der Rockoper “Starmania” von Michel Berger und Luc Plamondon Premiere, die er gemeinsam mit dem Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui erarbeitet hatte. Laut dem Wochenmagazin “Le Nouvel Obs” haben seither eine Million Menschen die mit zwei Molière-Preisen ausgezeichnete Produktion gesehen. Heuer ist sie auf Tournee in Frankreich, Belgien und der Schweiz. Im Juni 2023 legte Jolly mit Gounods “Roméo et Juliette” an der Garnier-Oper nach.
“Jollys Regiestil ließe sich mit Begriffen wie Aplom, Energie, Theatralik und Übermaß umschreiben. Seine Personenführung schwankt zwischen Rampenrezitation und Theaterturnerei, bleibt aber stets konventionell. Requisiten werden wie im Jahrmarkttheater eingesetzt, Lichteffekte und (oft originale) Bühnenmusiken erzeugen eine filmische Anmutung”, heißt es in der “F.A.Z.”, wo auch auf jene Vergleiche hingewiesen wird, die Jollys Produktionen seit langem begleiten: “Game of Thrones” und “House of Cards”. Theater im Fernsehserienstil, nicht für Feinspitze, sondern für die breite Masse. Volkstheater im besten Sinn. Theater, wie es einst Jérôme Savary machte.
“Le théâtre c’est pour les intellos” (“Theater ist was für die Intellektuellen”), “Le théâtre c’est que du blabla d’auteurs morts” (“Theater ist nur Blabla von toten Dichtern”) oder “Le théâtre c’est pas pour moi” (Theater ist nichts für mich) waren drei von 19 Vorurteilen, die Thomas Jolly 2018 in seiner TV-Kolumne “Le Théâââtre” in je eineinhalbminütigen Kurzbeiträgen auf “France 2” zu widerlegen versuchte: Mit animierten Zeichnungen unterstützte Parforceritte, die er mit bubenhaftem Charme und ausufernder Gestik vortrug.
Gegen Klischees will er auch in seiner Olympia-Eröffnungszeremonie ankämpfen. “Jeder soll sich an diesem Abend repräsentiert fühlen. Frankreich ist nicht nur das eine oder das andere. Es ist Edith Piaf… es ist auch Oper, es ist Rap, es ist eine ganze Reihe von Musikstilen”, sagte er der AFP. “Frankreich ist Käse, aber es ist auch Brezel und Couscous. Es geht nicht darum, eine einzige, feste Identität vorzuführen.”
Diesen Fehler machte der französische Schauspieler Jean Dujardin, als er im Vorjahr die Eröffnungszeremonie der Rugby-Weltmeisterschaft im Stade de France gestaltete – mit klassischen 50er-Jahr-Outfits, Baretts, Baguettes und einem Miniatur-Eiffelturm. Nicht nur, weil Jolly das Original als Kulisse zur Verfügung hat und die weitgehend wiederhergestellte Kathedrale Notre-Dame noch dazu, wird die Olympia-Feier ganz anders, verspricht er: modern und traditionell, französisch und weltoffen, sportlich und kulturell gleichermaßen.
Drei Stunden soll das Spektakel dauern. Jolly möchte dafür Brücken und Boote, Dächer und Quais mit künstlerischen Darbietungen unterschiedlichster Sparten bespielen. “Völlig verrückt!” soll der erste Kommentar von Emmanuel Macron dazu gelautet haben. Mittlerweile mischt sich der Präsident sogar in die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler ein. Er soll sich dafür eingesetzt haben, dass die populäre 28-jährige französisch-malische Popsängerin Aya Nakamura einen Auftritt mit einem Lied von Edith Piaf bekommt – und zeigte sich anschließend entsetzt über die rassistischen Anfeindungen, die diese Nachricht auslöste.
Details zur Eröffnungsfeier sind bisher kaum durchgesickert. Deutlich lieber als über künstlerische Einzelheiten spricht Jolly über die besonderen Bedingungen, mit denen er zu tun hat: Die Seine habe ein Eigenleben, nirgendwo dieselbe Tiefe, nirgends herrschten dieselben Strömungs- und Windbedingungen. Niemand könne heute Pegelstände und Wetterlage für den 26. Juli voraussagen. “Man kann alles organisieren und sich für alles vorbereiten, aber ich habe keine Macht über das Wetter”, sagte der Regisseur Radiofrance. “Aber auch Sommergewitter können sehr effektvoll sein …”
Die Proben müssen in riesigen Hallen stattfinden, wo sich etwa Schiffsbesatzungen und Künstler quasi im Trockentraining vorbereiten. “Auch das zählt zu den Besonderheiten dieser Show: Man kann sie nicht vor Ort proben”, sagt Thomas Jolly und wirkt davon keinesfalls eingeschüchtert. Ein einmaliges Ereignis. Aber mit Milliardenpublikum vor den TV-Geräten in aller Welt.
Einmalig? Nicht für Tausendsassa Thomas Jolly. Er ist auch für die Schlussfeier verantwortlich, die am 11. August im Stade de France wohl nicht ganz so eindrucksvoll ausfallen dürfte. Und etwas mehr als zwei Wochen später, am 28. August, findet auf der Place de la Concorde und den Champs-Elysées im Herzen von Paris die Eröffnungsfeier der Paralympischen Spiele statt. Der Zeremonienmeister? Thomas Jolly.