Von: apa
“Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere” hat der Kurator Adriano Pedrosa seine Hauptausstellung der 60. Kunstbiennale Venedig genannt. “Überall Fremde!” Wohin sollte dieses Motto besser passen als in die Lagunenstadt, die immer lauter über den wachsenden Touristenstrom klagt, der sich durch die Gassen ergießt? Und jetzt macht noch der globale Kunst-Jet-Set Station und sorgte schon bei der Preview für Stau an den Biennale-Eingängen! Ihm setzt Pedrosa viel Ungewohntes vor.
Sein Ausstellungstitel habe mehrere Bedeutungen, erläuterte der brasilianische Kurator am Mittwochvormittag auf einer Pressekonferenz. Überall treffe man auf Ausländer, immer sei man tief im Inneren ein Fremder, denn physisch wie psychisch sei Identität ein labiles, von einem selbst wie seiner Umgebung gemeinsam bestimmtes Konstrukt. Seit er im Dezember 2022 designiert wurde, habe er eine ziemlich außergewöhnliche Reise unternommen, die er strategisch angegangen sei, so Pedrosa. Seine selbst gestellte Hauptaufgabe sei es gewesen, Sichtbarkeit herzustellen für jene, die sonst übersehen würden.
Das sind ziemlich viele – und das ist auch eines der Probleme der Schau, die sich wie immer zwischen dem zentralen Pavillon in den Giardini und dem Arsenale aufteilt und auch einige Plätze unter dem freien Himmel bespielt. 330 Künstlerinnen und Künstler von 80 Ländern hat Pedrosa eingeladen, der stolz darauf ist, bei vielen Gruppen und Ländern Rekordzahlen an Eingeladenen vorweisen zu können – seine Aufzählung reichte von den bisher meisten afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen bis zu queeren und indigenen Künstlern.
“Nucleo Contemporaneo” und “Nucleo Storico” heißen seine nicht klar getrennten Sektionen. Erstere konzentriert sich auf Werke von Künstlerinnen und Künstlern, in denen sich das Fremde in vielfältiger Weise manifestiere: queere Künstler, Außenseiter am Rande der Kunstwelt, Autodidakten und Volkskünstler sowie indigene Künstler, die oft als Fremde im eigenen Land behandelt werden. Er fühle sich allen diesen Themen persönlich verbunden, sagte Pedrosa. Er, der lange Zeit seines Lebens im Ausland gelebt hat, habe als queerer Mann Ausgrenzungserfahrung, komme als Brasilianer aus einem Land mit großer indigener Bevölkerung und sei schließlich der erste Biennale-Kurator, der nicht nur aus dem globalen Süden stamme, sondern auch dort lebe.
Pedrosas zweiter, sein historischer Ansatz versammelt Werke aus dem Lateinamerika des 20. Jahrhunderts, aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien, und widmet sich in der künstlerisch schwächsten Abteilung der weltweiten italienischen künstlerischen Diaspora. Da wird es mitunter ziemlich didaktisch, denn die Versäumnisse der Kunstgeschichte sind mannigfaltig. Eine eigene Sektion, die sich mit der Entwicklung von Abstraktion und Porträt in diesen Weltgegenden beschäftigt, überfrachtet das Ganze komplett.
Ansonsten scheint diese Biennale den Weg, den die vergangene documenta eingeschlagen hat, fortzusetzen: Die Weltkunst ist längst nicht mehr rein europäisch und der Kunstbegriff diffus. So bunt und vielfältig war es hier noch selten. Das inkludiert auch jede Menge Werke, die in scheinbar naiver Weise Narration, politische Tagesaktualität und Kunst zu verbinden suchen. Bis jetzt wurden wenigstens noch keine fragwürdigen oder nur aus dem spezifischen Kontext richtig deutbare Symbole entdeckt – aber das war ja bei der documenta bekanntlich auch erst nach einigen Tagen der Fall.
Wie passen da die vier Österreicher hinein, die von Pedrosa ausgewählt wurden? Prächtig! Der Hauptpavillon, in dem der mit Gugging assoziierte Niederösterreicher Leopold Strobl ausgestellt ist, erinnert mit seiner bunten Fassadenbemalung des brasilianischen Makhu Kollektivs an das Gugginger Haus der Künstler, in dessen Umfeld der seit langem in psychiatrischer Behandlung Befindliche seit 2002 immer wieder arbeitet.
Die 16 kleinformatigen Arbeiten aus Strobls seit einem Jahrzehnt laufender Werkserie an Übermalungen von ausgeschnittenen Zeitungsfotos müssen sich in seinem Saal gegen deutlich größere Landschaften durchsetzen, von denen man ebenfalls nicht recht weiß, wie sehr sie eine Realität oder eine Traumwelt abbilden. Geschaffen wurden sie von einem 2005 gestorbenen libanesischen Künstler und der 89-jährigen Kay WalkingStick, als Cherokee eine Angehörige der First Nations. Der Bildtext verweist auf die Verwandtschaft der Strobl’schen Übermalungen mit Arnulf Rainer – immerhin ein feiner Ansatzpunkt für jene Kunst-Connaisseurs, die sich in diesem Trubel näher mit den geheimnisvollen Schraffuren auseinandersetzen wollen, mit denen Strobl ihm nicht Genehmes aus den Fotos entfernt.
Die in Hollabrunn geborene und in Bologna lebende Künstlerin Greta Schödl war schon einmal auf der Biennale von Venedig vertreten: 1978 im italienischen Pavillon. In den vergangenen Jahren wurde die “Visual Poetry” der heute 94-Jährigen zunehmend wiederentdeckt. Im Arsenale sind ein Seiden- und ein Ölbild sowie zehn von ihr mit Schrift bearbeitete Steine zu sehen, die in ihrem Zusammenspiel von Härte und Fragilität bezaubern. Je nach der Beschaffenheit des Gesteinsbrockens sind die sich über die ganze Oberfläche wiederholenden Worte “marmo”, “granito” oder “quarzite” eingraviert und immer ein Buchstabe mit einem winzigen Goldplättchen überdeckt. Nicht wenige Besucherinnen und Besucher halten hier inne und lassen sich verzaubern – besonders bemerkenswert, weil rundum die Bildsprache deutlich kräftiger ist.
Einen Raum weiter hat Marco Scotini sein “Disobedience Archive” aufgebaut, eine Sammlung von Videos, in denen das Aufeinanderprallen von Kunst und Politik, Vision und Realität, Protest und Poesie dokumentiert wird. Mitten unter den gezeigten 40 Beispielen ist auch der Steirer Oliver Ressler mit seinem vor elf Jahren mit der australischen Künstlerin und Filmemacherin Zanny Begg gedrehten 19-minütigen Film “The Right of Passage”, der sich mit Global Citizenship, Bürgerrechten und Migration auseinandersetzt, vertreten. Zu finden ist er in dem stark abgedunkelten Raum infolge mangelhafter Beschriftung allerdings nicht gerade einfach.
Den Abschluss aus österreichischer Sicht machen bei dem Rundgang durch die Hauptschau Arbeiten der 2009 in Nigeria verstorbenen gebürtigen Grazerin Susanne Wenger. Sie studierte in Wien unter anderem bei Arnold Boeckl, übersiedelte 1949 zunächst nach Paris und kam Anfang der 1950er-Jahre zu den Yoruba nach Nigeria. Dort wurde sie zur “Weißen Priesterin” und versuchte eine Verbindung von Kunst und Ritual herzustellen. Gezeigt werden fünf große Batiken wie “Die magische Frau” oder “Schöpfungsgeschichte”, die zudem hervorragend mit den im selben Raum vis-a-vis präsentierten Batiken des Yeruba-Priesters Sangodare Gbadegesin Ajala zusammenpassen – kein Wunder, handelt es sich doch um den Adoptivsohn Wengers.
Familiäre Beziehungen sind nämlich einer der vielen Kriterien Pedrosas für seine Auswahl. Über ein Dutzend solcher Verwandtschaften zeigt er, verstreut über das ganze Areal. “Auch hier spielt die Tradition eine wichtige Rolle”, sagt er. Und so erweist sich die Inklusion und Aufbruch zelebrierende Ausstellung am Ende doch als ziemlich traditionell.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E – www.labiennale.org)