Von: apa
Martin Pollack feiert am 23. Mai seinen 80. Geburtstag. Er hat allen Grund zum Feiern. “Meine Ärzte sagen mir, ich lebe eh’ schon viel länger als ich sollte”, sagt er. Vor elf Jahren wurde er mit einer vernichtenden Krebsdiagnose konfrontiert. “Aber ich habe die besten Ärzte, die man sich wünschen kann.” Am Geburtstag versammeln sich Freunde und Wegbegleiter in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, um den Autor, Übersetzer und Journalisten hochleben zu lassen.
Moderiert von Gerhard Zeillinger werden dabei ab 19 Uhr u.a. Ex-Burgtheaterdirektorin Karin Bergmann, die Autorin Tanja Maljartschuk, die Literaturwissenschafterin Brigitte Hilzensauer, die Autoren Karl-Markus Gauß und Christoph Ransmayr sowie Herbert Ohrlinger und Bettina Wörgötter vom Zsolnay Verlag aus dem vielfältigen Werk des Jubilars lesen. Die Auswahl ist groß und reicht von Büchern wie “Galizien” (2001), “Von Minsk nach Manhattan, Polnische Reportagen” (2006) und “Sarmatische Landschaften – Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland” (2006) bis zu seinen Aufarbeitungen der Familienbiografie, “Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater” (2004) und “Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante” (2019).
Eine Begegnung mit dem 1944 im oberösterreichischen Bad Hall geborenen Jubilar in seiner Wiener Wohnung ist erstaunlich: Der als unheilbar diagnostizierte Prostatakrebs hat seine tiefen Spuren hinterlassen und Pollacks Mobilität und Kondition deutlich eingeschränkt, doch seinen Willen und seine nüchterne Klarsicht nicht beeinträchtigt. Er habe sein Schicksal sofort angenommen, sagt er im Gespräch mit der APA. Fast niemand in seiner Familie habe sein Alter erreicht. “Resignation und Verzweiflung gehören nicht zu mir. Mich interessiert die Krankheit auch nicht.”
Viel mehr interessiert ihn, was er unter diesen Umständen noch schaffen kann. Etwa seine “Krzysztof Michalski Memorial Lecture” am 14. Juni am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zu halten, die er unter den Titel “The Long Shadow of a Sinister Past. A Never-Ending Story” gestellt hat. “Viele Jahre lang weigerte sich die offizielle Position Österreichs in der Nachkriegszeit, den Grad seiner Mitschuld am Nationalsozialismus anzuerkennen. Pollack geht der Frage nach, ob diese Weigerung das Land anfälliger für die Verlockungen des Rechtspopulismus gemacht hat”, heißt es in der Ankündigung.
Es ist eines der Themen, die Martin Pollacks Leben bestimmt haben. “Ich komme aus einer hundertprozentigen Nazifamilie. Das steckt in den Leuten drinnen – in Österreich offenbar besonders stark. Und bei jeder Gelegenheit kommt das wieder heraus.” Über seine Erkenntnis, dass sein Vater, der 1947 beim Versuch eines Grenzübertritts nach Italien unter ungeklärten Umständen erschossen wurde, bei den nationalsozialistischen Verbrechen als hochrangiger Gestapo-Beamter und SS-Offizier Mittäter war, hat er ein so beeindruckendes wie bedrückendes Buch geschrieben. Von der Erfahrung, dass die geliebte Großmutter, die die wesentliche Bezugsperson seiner Kindheit war, nie etwas aus der Geschichte gelernt hat, vermag er in einer Offenheit und Direktheit zu erzählen, dass einem mitunter die Luft wegbleibt.
“Ich hab’ mit der Familie meines Vaters gebrochen. Das war notwendig. Aus heutiger Sicht hab ich das aber mit unnötiger Härte gemacht.” Dass er nach einer Ausbildung als Tischler in Wien und Warschau Slawistik und osteuropäische Geschichte studierte, sei eine Art Trotzreaktion gewesen, ein Versuch, der Großmutter “eins auszuwischen”, gibt er zu. “Sein Studium aus diesem Grund zu wählen, ist natürlich eine dumme Idee. Bei mir hat es sich aber auf wunderbare Weise zum Besten gefügt. Ich bin damit glücklich geworden.” Er habe in Polen viele ihn bereichernde Bekanntschaften geschlossen. Als ihm seine Großmutter brieflich ihr Unverständnis ebenso ausdrückte wie ihre inständige Hoffnung, er möge nicht mit einer polnischen Frau heimkehren, Gott behüte vielleicht sogar mit einer jüdischen, habe er sich zum radikalen Bruch entschlossen – und nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt, sagt er.
Die polnische Schule der Reportage habe ihn sehr beeinflusst, erzählt Pollack, der sich u.a. als Übersetzer des polnischen Autors und Journalisten Ryszard Kapuscinski einen Namen machte und 1987 bis 1998 Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins “Der Spiegel” in Warschau und Wien war. Sein erster Auftrag in Wien war ein Besuch bei Bundespräsident Kurt Waldheim. In der weltweit diskutierten Affäre um dessen SS-Vergangenheit hatte das Magazin ein Telegramm publiziert, das sich nicht als Beweis, sondern als Fälschung herausstellte. “Mir und meiner Vorgängerin Inge Santner oblag es, zu Waldheim zu pilgern und uns dafür zu entschuldigen. Der Termin war hochnotpeinlich. Der ‘Spiegel’ war damals Partei – was man im Journalismus immer vermeiden sollte.” Journalismus sei heute schneller und oberflächlicher, registriert Pollack. Früher habe man drei Monate an einer Geschichte mit offenem Ausgang recherchieren können – heute sei dies undenkbar.
Auch als Buchautor lagen seinen Erzählungen oft akribische Recherchen zugrunde – nicht nur, was das Schicksal seines Vaters und seiner Tante anbelangt. In seinem Buch “Anklage Vatermord” (2002) rekonstruierte er einen Justizskandal der 20er-Jahre, in “Kaiser von Amerika” (2010) schilderte er die Massenflucht von Juden, Polen und Ukrainern aus Galizien zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.
“Pollacks Bücher dokumentieren Geschichte und verzichten großteils auf Fiktion”, hieß es in der Jurybegründung des 2007 an ihn verliehenen Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels. “Sein Blick auf Gewesenes erreicht die Leser somit unverfälscht und direkt. Er gibt Zeugnis von der Vergangenheit und weist damit einen Weg in eine Zukunft, die vom Verständnis füreinander geprägt ist.”
Zu seinen weiteren Auszeichnungen zählen der Österreichische Staatspreis für literarische Übersetzungen (2003), der Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2011), der Österreichische Staatspreis für Kulturpublizistik und der Johann-Heinrich-Merck-Preis (beide 2018). Dessen Jury hob Pollacks Beschäftigung mit “den vergessenen und verdrängten Ereignissen in der mitteleuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts” hervor. “Wie sehr Geschichte eine Landschaft formt und dadurch wiederum das Leben der Menschen, die in ihr wohnen, wird durch die Essays von Martin Pollack begreifbar.”
Dass man aus der Geschichte lernen kann und sollte – diese Überzeugung zieht sich durch alle Bücher Pollacks. Dass viel zu wenige Menschen davon Gebrauch machen, ist eine der Lehren seines Lebens. Immerhin lässt der demokratische Machtwechsel in Polen weg vom nationalautoritären Kurs der PiS-Partei hin zu einer erneuten Europaorientierung hoffen. “Ich hatte die Hoffnung nie verloren. Ich fürchte aber, dass es in Ungarn viel schwerer sein wird. Die Zivilgesellschaft ist dort viel stärker zerstört worden als in Polen.”
Aber auch sonst bereitet Pollack einiges Sorgen. “Es gibt wenig Grund zum Optimismus. Die Lage ist finster.” In der Ukraine und im Nahen Osten herrscht Krieg mit ungewissem Ausgang, in der EU regiert Angst, Verunsicherung und Wagenburgmentalität. “Die Abschottungspolitik Europas funktioniert nicht. Wir verschließen die Augen vor einer grausamen Realität.” Seien es früher wirtschaftliche Nöte oder kriegerische Auseinandersetzungen gewesen, die Migrationsströme ausgelöst haben, werde es künftig vermehrt der Klimawandel sein. “Und es wird nichts geben, das die Menschen dann aufhalten könnte.”
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)