Von: apa
Der Roman “Die Wut, die bleibt” von Mareike Fallwickl war 2022 eines der stärksten Bücher des Jahres. Mit dem in diesen Tagen erscheinenden neuen Roman “Und alle so still” beweist die 1983 geborene Salzburgerin, dass die Wut auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten seither nicht kleiner geworden ist. Sie habe sich bewusst entschieden, “in dieser Richtung weiterzumachen”, sagt sie im APA-Interview. In dem Buch legen Frauen ihre Care-Arbeit nieder. Die Folgen sind katastrophal.
APA: Frau Fallwickl, die Resonanz auf Ihren Roman “Die Wut, die bleibt” war sehr groß – inklusive Dramatisierung bei den Salzburger Festspielen. Hat Sie das überrascht?
Mareike Fallwickl: Tatsächlich gab es viel weniger Gegenwind und viel weniger Kritik an diesem Buch, als man vielleicht hätte erwarten können. Es ist wirklich auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. Ich glaube auch, das war ein bisschen der Pandemie geschuldet. Damals war im öffentlichen Diskurs viel Aufmerksamkeit für diese Themen. Im Lockdown gab es Nachrichten von Freundinnen, die Mütter sind: Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich springe jetzt einfach vom Balkon. Dieser Satz hat mich elektrisiert, und ich habe mir gedacht: Was ist, wenn das wirklich eine macht. So inspiriert von den äußeren Umständen, ist diese Geschichte entstanden. Die erste Seite hab ich im größten Homeschooling-Halli-Galli am Küchentisch geschrieben. Als dann später alle diese Mikros und Kameras in mein Gesicht gehalten wurden, dachte ich: Das nutze ich jetzt aus. Mein Name ist nun mit einem feministischen, empowernden Buch verbunden – und es ist ja auch nicht das Schlechteste, für das man stehen kann. Deswegen habe ich mich entschieden, in dieser Richtung weiterzumachen.
APA: Sie schreiben in Ihrer Danksagung in “Und alle so still”, dass die Idee für das neue Buch schon bei den Sätzen “Ich überlege mir, was passiert, wenn wir uns alle verweigern” des vorherigen Buches entstanden ist.
Fallwickl: Ja, als ich das hingeschrieben habe, dachte ich: Oh, da steckt eine gute neue Geschichte drinnen. Als ich dann mit der “Wut” viel unterwegs war, habe ich viel recherchiert und gelesen über Verweigerung und Streik. Ich hab mit vielen Frauen im Gesundheitswesen gesprochen und Geschichten gesammelt. Auf einen Internetaufruf haben sich ganz viele Frauen gemeldet. So krass die Krankenhauskapitel sind: Das sind alles echte Geschichten, die Pflegende erlebt haben. Ich wollte eine Frauenfigur, die etwas älter ist und alles verkörpert, was wir typisch weiblich nennen. Sie opfert sich auf, und ich wollte wissen: Was muss ich ihr alles antun, dass so eine Frau nicht mehr aufsteht?
APA: Es gibt viele Bereiche, die nur durch weibliche Arbeit funktionieren. Warum haben Sie ein Spital als Schauplatz gewählt?
Fallwickl: Wir haben kein Wissensdefizit, sondern ein Handlungsdefizit. Wir wissen, wie viele hunderttausend Pflegekräfte bis 2030 fehlen werden, aber wir machen nichts. Im Roman geht es nicht nur um Sorgearbeit und ums Kümmern, sondern auch um prekäre Bedingungen. Da kommt im Gesundheitswesen beides zusammen. Wenn Lokführer oder Piloten streiken, gibt es in der Gesellschaft Verständnis dafür. Die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen Frauen sich befinden, sind nicht leicht oder gar nicht bestreikbar. Das war auch ein Grund, das in ein Krankenhaus zu verlegen: Hier wird es sehr schnell sehr krass. Das ist literarisch interessant, denn dadurch lässt es sich sehr schnell zuspitzen.
APA: In Ihrem Buch geht es um Verweigerung und nicht um Streik. Die Frauen legen sich stumm auf den Boden – erheben aber keine spezifischen politische Forderungen, die sie durchsetzen wollen. Was steckt da dahinter?
Fallwickl: Es geht mir vor allem um einen Endpunkt dieser Ausbeutung. Wir bedienen uns an der Gratisressource Sorgearbeit so munter wie an den Ressourcen dieses Planeten. Der Welterschöpfungstag kommt jedes Jahr früher – und wir machen dennoch einfach weiter. Ich wollte davon erzählen, dass der Raubbau an diesen vorwiegend weiblichen Kräften auf einmal zu Ende ist. Ich wollte aber, dass das erst der Anfang ist. Ich wollte wissen: Was bedeutet das? Wie schnell bricht ein System zusammen? Welche Konsequenzen hat das? Das Schöne an der Literatur ist, dass man etwas ausprobieren kann, was in der Realität noch nicht stattfindet.
APA: Sie beginnen den Roman mit einer Pistole, die spricht. Das erinnert an den berühmten Tschechow-Satz, wonach ein Gewehr, das im ersten Akt auf der Bühne ist, im letzten Akt abgefeuert werden muss. Danach aber irritieren Sie, indem sie eine junge Frau zeigen, die im Wellnesshotel ihrer Mutter scheinbar wahllos Sex hat. Lange weiß man nicht, was das soll. Wieso dieser Anfang?
Fallwickl: Bei Elin geht es darum, sie zuerst als komplett privilegierte normschöne Frau zu zeigen. Sie hat eine Feministin als Mutter, kann die Dinge durchschauen, benennen und anprangern. Sie hat auch gelernt: Du musst Dinge einfordern und dir nehmen. Sie kommt aber zur Erkenntnis: Das alles reicht nicht! Sie beginnt dann, ihre Privilegien zu nutzen, um sich für andere einzusetzen. Es geht in dem Buch nicht nur um Verweigerung, sondern auch viel um Solidarität. Es freut mich, dass es Sie irritiert hat!
APA: Auch die Struktur des Romans ist irritierend: Es spricht “die Pistole”, “die Gebärmutter” und “die Berichterstattung”. Es gibt drei Personen, denen Sie folgen, und eine Zeitstruktur von Freitag zum nächsten Freitag. Es braucht weniger als eine Woche, um alle Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Wie kommt es zu dieser Struktur?
Fallwickl: Die Gegenstände hatte ich als erstes. Anfänglich waren es auch mehr, aber dann habe ich sie auf drei reduziert, von denen man am Ende weiß, wie sie zugeordnet sind: die Berichterstattung zu Ruth, die Pistole zu Nuri und die Gebärmutter zu Elin. Ich brauche diesen Trick, denn ich bin ganz nahe an den Figuren dran. Es ist ja kein Sachbuch. Die drei Gegenstände sind aber der Handlung enthoben und können wie eine äußere Erzählinstanz ein bisschen Info nachschieben. Und die Pistole ist tatsächlich aus dem von Ihnen genannten Grund die Pistole – denn subtil ist aus!
APA: Es braucht einige Zeit, bis die Handlung an Fahrt aufnimmt.
Fallwickl: Dass der Spannungsbogen tatsächlich erst nach hinten anzieht, soll zeigen: Am Anfang lassen wir uns alle noch Zeit, aber dann überholen uns die Ereignisse. Es würde wirklich nicht sehr lange dauern, bis das System zusammenbricht. Ich mach immer wieder Workshops an Schulen und frage dort: Was ist die kritische Menge? Wie viel Prozent der Bevölkerung müssen sich an einem Protest beteiligen, damit sich ein System verändern kann? Da sagen alle: bestimmt mehr als die Hälfte. Aber es sind nur 3,5 Prozent, die es bräuchte, um gemeinsam gegen etwas aufzustehen. Das ist schon eine Zahl, die man theoretisch erreichen könnte. Aber klar, es ist ein Roman. Wenn er es schafft, einen Denkanstoß zu geben, dann hab ich eh schon viel erreicht! Ich höre immer: Weibliche Solidarität gibt es nicht. Ich habe mich entschlossen: Dann schreib ich Sie Euch eben! Und wenn wir sie erst einmal erzählen können – vielleicht können wir sie dann auch real werden lassen.
APA: Ihre drei Hauptfiguren sind eine junge Frau, eine ältere Frau und ein junger Mann. War er wichtig, damit das Buch nicht als reiner Frauenroman abgetan werden kann?
Fallwickl: Wir wissen ja noch gar nicht, ob das nicht trotzdem passieren wird. (lacht) Diesmal war es tatsächlich wichtig, einen jungen Mann dabei zu haben. Bei “Die Wut, die bleibt” gab es eine starke Konzentration auf die Frauenfiguren. Aber das neue Buch soll klar machen: Es wird nur gemeinsam gehen. Wenn sich die Geschlechter die ganze Zeit bekämpfen, dann werden wir nicht weiterkommen. Ich wollte auch zeigen: Es gibt eine neue Generation von jungen Männern, die sehr wohl merken, was schiefläuft. Gleichzeitig spüren sie aber auch eine große Hilflosigkeit, weil sie merken, diesen sehr breit ausgebauten Weg möchten sie nicht gehen, aber rechts und links ist Dickicht, denn dort ist noch niemand gegangen. Nuri steht für diese jungen Männer, die sich gerade aufmachen, neue Männlichkeitsbilder zu finden und neue Rollen zu definieren. Deswegen ist es am Ende auch so wichtig, dass er sich anschließt und auch aufgenommen wird.
APA: Sie haben “Die Wut, die bleibt” Ihrer Tochter gewidmet und widmen das neue Buch nun Ihrem Sohn. Die Journalistin und Autorin Shila Behjat hat kürzlich in ihrem Buch “Söhne großziehen als Feministin” ebendas als Herausforderung beschrieben. Wie weit haben Sie die Hoffnung, dass er einmal ein Nuri wird?
Fallwickl: “Die Wut, die bleibt” beschreibt den Istzustand und ist deswegen meiner Tochter gewidmet, die wissen muss, wie es uns Frauen geht in dieser Gesellschaft. Das neue Buch, das erzählt, wie es sein könnte, ist meinem Sohn gewidmet, weil es wichtig ist, dass die Männer mitmachen. Ohne Männer wird es nicht gehen, und sie müssen verstehen, dass auch sie mit echter Gleichberechtigung unglaublich viel gewinnen können.
APA: Wie alt ist Ihr Sohn, und wie läuft’s in der Erziehung?
Fallwickl: Er ist 14 und pubertiert voll. Als Mutter hat man im Leben der Kinder schon eine laute Stimme, aber nicht die einzige. Der ganze patriarchale Content, den sie täglich konsumieren, und die Dynamiken der Gleichaltrigen wirken sehr stark. Nuri ist viel näher dran an der Erkenntnis, weil er marginalisiert ist und selbst Diskriminierungserfahrungen macht.
APA: “Die Wut, die bleibt”, ist nicht nur geblieben, sondern noch gewachsen. Auch die Ungleichheit wächst. Was kann man da noch dagegen tun außer Bücher schreiben?
Fallwickl: Das ist ein interessanter Punkt: Wann kommen Menschen vom Nachdenken, Motzen und sich Fürchten ins Handeln? Braucht es einen noch größeren Leidensdruck? Es wird so viel gewusst und so wenig gehandelt! Gleichzeitig glaube ich, dass der Mensch überleben will. Deswegen werden sich diese Dinge ändern müssen – weil sie uns in jeder Richtung in große, lebensbedrohliche Gefahr bringen. Wir denken oft: Das System ist so, wie es ist – als wäre die Gesellschaft etwas, was wir uns von außen anschauen. Als wären wir selbst unbeteiligt. Dabei sind ja WIR die Gesellschaft und gestalten sie jeden Tag. Gesellschaften haben sich immer verändert. Nichts davon ist naturgegeben. Alles ist menschengemacht. Wenn wir etwas erschaffen, können wir es auch abschaffen. Wir haben viel mehr Handlungs- und Gestaltungsmacht, als wir denken. Daraus erwächst aber auch viel mehr Verantwortung dafür, die Dinge aktiv mitzugestalten.
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
INFO: Mareike Fallwickl: “Und alle so still”, Rowohlt hundert Augen, 368 Seiten, 23,70 Euro, Buchpremiere am 16. April, 20 Uhr, in der ARGE Kultur Salzburg, Lesung am 18. April, 19 Uhr, im Keltenmuseum Hallein