Von: apa
Nazideutschland hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen, die Atombombe wurde nicht auf Hiroshima, sondern auf London abgeworfen – und Adolf Hitler stirbt und wird unter großem Pomp bestattet. Das ist das Ausgangsszenario des Mitte der 1960er-Jahre geschriebenen und auch in dieser Zeit spielenden Romans “Wenn das der Führer wüsste” von Otto Basil. Der Wiener Milena Verlag hat dieses Werk nun – versehen mit einem Nachwort von Johann Holzner – zum zweiten Mal nach 2010 neu aufgelegt.
Es ist eine sehr verstörende, mitunter schwierig zu lesende, Erzählung des 1983 verstorbenen Basil, der in den unmittelbaren Nachkriegsjahren als Herausgeber der avantgardistischen Literatur- und Kulturzeitschrift “Plan” einen großen Beitrag zur Förderung junger Autoren und Autorinnen leistete. Der utopistische – aber nicht zukunftsorientierte – Roman spielt sich in einer bipolaren Weltordnung ab, in der es neben dem großdeutschen Reich nur Japan als zweite Weltmacht gibt – “die Japse” oder “die Gelben”, wie die dort lebenden Menschen von den Nazis abschätzig bezeichnet werden.
Wie hätte die Welt nach einem deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg wohl ausgesehen? Bei Basil gibt es jedenfalls ein “Großgermanisches Reich” mit so etwas wie einem Kernreich und dazu eine Einflusszone mit pangermanische Besatzungstruppen in vielen Teilen der Welt – bis nach Sibirien, Tibet und auch in den “Vereinigten Gefolgschaften von Amerika”. Aus Konzentrationslagern sind “Untermenschenlager” (UmL) geworden, Parteimitglieder halten sogenannte “Untermenschen” als Leibeigene, die als Halbtiere gelten und für niedere Arbeiten eingesetzt werden. Mittels neurologischer Experimente sollen viele von ihnen komplett zu Haustieren herabgesetzt werden – in einem ersten Schritt werden sie dazu trainiert, auf allen vieren zu gehen. Weiters gibt es Ordensburgen der SS sowie Zuchtmutterklöster des “Bundes Deutscher Mädel” zur Kontrolle von Geburtenpolitik und Ausbildung der Jugend.
Nach dem Tod des altersschwachen Führers wird sogleich dessen – angeblich von Hitler testamentarisch gewünschter – Nachfolger gekürt, nämlich der kroatischstämmige Ivo Köpfler. Er ist noch radikaler als Hitler und kommt aus dem sogenannten “Werwolf-Bund”. Die “Werwölfe” bilden somit eine neue Herrscherschicht im beinahe weltumfassenden großedeutschen Reich, einige altgediente Hitler-Getreue werden von ihnen aus dem politischen System ausgeschieden oder gar für vogelfrei erklärt. Hier nahm der Autor wohl Anleihen beim “Wehrwolf”-Kampfbund von 1923 und bei den “Werwolf”-Kamikaze-Ziviltruppen, die von Heinrich Himmler 1944 in einer verzweifelten Aktion vor Kriegsende eingesetzt wurden.
Als in dieser Phase die innere Einheit des Deutschen Reichs zerbröckelt, werden bald Gerüchte über ein (Vergiftungs-)Mordkomplott gegen Hitler ruchbar. Bad weiß niemand mehr, wem er noch trauen kann und welchem Flügel sein aktuelles Gegenüber angehört. Und während Bürgerkriegs-artige Zustände ausbrechen, wagen viele Leibeigene den Aufstand, töten ihre Herren und machen sich mit deren Besitz aus dem Staub. Während dieses inneren großdeutschen Zerfalls wagt aber auch der internationale Feind, also Japan, den Angriff. Lange von den staatlich gesteuerten Medien verschwiegen, werden plötzlich Berichte über Unmengen von Angriffen und neuen Fronten verlautbart – und schon bald geht auch die erste von Japan abgeworfene Atombombe nieder.
Erzählt wird die Geschichte anhand des aus Österreich (der “Ostmark”) stammenden “Strahlungsspürers” Albin Totila Höllriegl, den ein ominöser Spezialauftrag von oberster Reichsstelle erst nach Berlin, dann in den Harz führt. Bei der Lektüre begleitet man Höllriegl auf dem schrittweisen Weg in die Apokalypse, dubiose sexuelle Abenteuer und Fantasien (für welche sich der gern mit dem mundartlichen “Heitla!” grüßenden überzeugte Hitler-Anhänger im Stillen schämt – aber nur, weil sie zuweilen seine Sorge um das Wohl des Reichs verdrängen). Irgendwann liegt alles in Schutt und Asche, große Landesteile und deren Bewohner sind schlimmstens verstrahlt – wofür lohnt sich dann noch der Überlebenskampf?
Viele von diversen Akteuren in diesem Buch geäußerte Sätze und Parolen haben historische Anklänge (etwa “Seit heute null Uhr deutscher Zeit wird mit der gleichen Waffe zurückgeschlagen”). Auch einige Figuren erinnern an reale Personen (z.B. Heidegger und Doderer). Einige von Basil hier geschilderte Begebenheiten zeigen, dass das Phänomen der Verschwörungstheorien kein neues ist. Manche Passagen erinnern an Werke wie George Orwells “1984”, die Schlussphase an apokalyptische Thriller und Filme. Wenig Überschneidungen gibt es hingegen mit einem anderen Roman, der auf der Annahme eines Nazi-Endsieges beruht – Robert Harris’ “Vaterland” aus dem Jahr 1992 geht in eine gänzlich andere Richtung.
Zwar ist “Wenn das der Führer wüsste” im Kontext der Zeit seiner Entstehung – etwa als Kritik an mangelhafter Aufarbeitung in der Nachkriegszeit – zu lesen, jedoch lässt der aktuelle Weltenlauf das von Basil skizzierte Szenario womöglich sogar weniger absurd erscheinen als dies 1966 der Fall war. Denn die zunehmend aggressiven und sich international verzweigenden kriegerischen Konflikte, die nicht zuletzt auf Allmachtsfantasien manch politischer Akteure fußen, sowie der Klimawandel sind durchaus verwandt mit der Quintessenz vor allem der abschließenden Kapitel dieses Buchs: Die totale Zerstörung der Welt durch Menschenhand erscheint einmal mehr nicht unmöglich.
(S E R V I C E – Otto Basil: “Wenn das der Führer wüsste”, Milena-Verlag, 340 Seiten, 26,00 Euro)