Von: mk
Bozen – Der Herbst ist immer die Zeit vermehrter Depressionen, heuer leider auch wirtschaftlich. Die Nachwehen der Coronakrise schränken uns ein, und drängen uns gleichzeitig, das, was möglich ist, ganz engagiert zu tun. „Etwas, was fast immer möglich ist, ist Bewegung. Am besten mit richtiger Kleidung im Freien, aber zur Not auch auf dem Fahrradtrainer oder Laufrad zu Hause“, erklärt Roger Pycha, Primar der Psychiatrie Brixen.
Eine bahnbrechende Studie aus dem Jahr 1999 beweist, dass eine Stunde Gehens sechs Mal wöchentlich gegen Depressionen gleich gut hilft wie die Einnahme einer Tablette des Antidepressivums Sertralin. Einziger Unterschied: Das Gehen wirkt erst nach 16 Wochen, das Medikament bereits nach drei.
Moderne Untersuchungen beweisen noch viel mehr. Unser Gehirn stirbt langsam ab, ab dem 40. Lebensjahr verlieren wir 1.000 Gehirnzellen täglich. An einer Stelle im Gehirn, an der ältesten Windung des Großhirns, wachsen im Gyrus Dentatus allerdings neue Hirnzellen nach und verteilen sich dorthin, wo sie gebraucht werden. Es sind zwar weniger als verloren gehen. Aber wir alle können die Nachlieferung verbessern, indem wir Ausdauersport betreiben. Damit verdichten wir auch die Verknüpfung zwischen den Nervenzellen und regen die Bildung zusätzlicher Blutgefäße an. Dadurch wieder gelangt mehr Sauerstoff und mehr Energie ins Gehirn. „Wir werden durch Bewegung regelrecht klüger“, so Pycha.
Welche Bewegung macht uns am klügsten? Es ist genau jene, die uns am fittesten macht. Nicht Kraftsport ist gefragt, sondern Ausdauer. Die genetisch ältesten Menschen sind die Khoi-San im Süden Afrikas. Ihr Erbgut stammt aus der Zeit von vor 100.000 Jahren, und sie sind weiterhin Jäger und Sammler. Ihr Spezialgebiet ist die Ausdauerjagd. Sie laufen viele Stunden lang Steinböcken und Büffeln hinterher, scheuchen sie in kleinen Gruppen immer weiter, bis die Tiere erschöpft zusammenbrechen. Auch die Tarahumara, Eingeborene im Norden von Mexiko, laufen auf der Jagd nach Hirschen und Rehen bis zu 170 km, ohne anzuhalten. Natürlich ganz langsam, gemeinsam und koordiniert. Diese Fähigkeiten schlummern in den meisten von uns.
Der Fitnesspapst Dr. Ulrich Strunz hat 2000 das „ultralight jogging“ erfunden. Es ist eine Art der Bewegung, die man auch wenige Wochen nach einem erlittenen Herzinfarkt beginnen kann. Dabei soll man sich anstrengen, bis man in leichtes Schwitzen kommt. Man soll aber keine Atemnot spüren, denn die signalisiert dem Körper unbewusst zu großen Stress. „Wir brauchen Herausforderungen, keine Überforderungen. Drei kleine Schritte lang soll eingeatmet werden, und drei Schritte lang aus. Auf die zurückgelegte Strecke kommt es nicht an. Man kann auch im Stand joggen, ohne dass man vom Fleck kommt. Dann fehlen zwar einige günstige Begleitumstände, die vorbeiziehende Landschaft, die Anpassung an immer andere Bodenverhältnisse, die kühle Brise und die rasche neue Orientierung. Aber das Bewegungsmuster verjüngt unser Gehirn. Alles, was es dazu braucht, ist regelmäßige Überwindung“, erklärt Pycha.
Dr. Rudolf Schöpf ist selbst bekannter Langläufer, Teilnehmer an Marathons, Bergläufen und Ultratrails. Er ist aber auch ein exzellenter Psychiater und arbeitet am Zentrum psychischer Gesundheit Brixen. In einer persönlichen Trennungskrise habe er zu laufen begonnen, erzählt er, und dieses Hobby ist immer wichtiger geworden. Er empfiehlt, ganz klein anzufangen. Fünf Minuten täglich kann anfangs auch schon genug sein. „Viele haben große Angst vor der Überanstrengung. Das müssen sie als erstes überwinden“, meint er. Wenn die Ermüdung und die Anstrengung aber auch Qualitäten wie Entspannung, Lockerung und Ruhe einschließt, sucht man sie schon lieber. „Wir sind für dauernde Bewegung gemacht, wir müssen sie nur anwenden. In diesem Hebst besonders“, so Pycha.