Von: bba
Es gibt Orte, die sind zauberhaft und rätselhaft – wie etwa die griechische Insel Ikaria: Hier ticken die Uhren definitiv anders und die Menschen erreichen ein biblisches Alter.
Ikaria gehört zu den “Blue Zones”: Das sind laut Dan Büttner Orte, in denen Senioren bis ins hohe Alter fit und vital sind. Sie leben länger und glücklicher als Menschen sonst wo auf dem Erdball.
Die Ikarer gelten als faul, stur und unzuverlässig. Sie schlafen lange und öffnen die Geschäfte, wann es ihnen passt. Sie haben seltsame Bräuche, die sie häufig und gerne pflegen, und sie feiern oft und gern.
Die Ikarer überleben auch Todesprophezeiungen ihrer Ärzte, wenn sie ihre Heimatinsel aufsuchen. Auf der Insel Ikaria scheint die Uhr stehengeblieben zu sein. Hier erlebt man noch das ursprüngliche Griechenland der 1970-er Jahre. Die Menschen sind anfangs scheu, doch nach einer Anlaufphase sind sie herzlich und offen.
Ikaria ist eine bergige Insel in der Ost-Ägäis, nahe der türkischen Küste, etwa so groß wie der Bodensee, und der höchste Berg erreicht 1.100 Meter über dem Meeresspiegel. Die Südseite ist felsig, karg und steil abfallend, die Nordseite wasserreich üppig, fruchtbar und grün. Ikaria liegt neben Mykonos und ist der krasse Gegensatz.
Die Insel Ikaria ist mit einer Bevölkerungszahl von 8.000 Einwohnern nicht dicht besiedelt. Die Bergdörfer sind in der Landschaft versteckt. Das hat den Einwohnern im Mittelalter, als die Piraterie in der Ägäis epidemische Ausmaße angenommen hatte, das Leben gerettet. Während andere Inseln von Piraten regelrecht entvölkert und die Menschen an die Sklavenmärkte verschleppt wurden, versteckten sich die Einwohner Ikarias in den Bergen, tarnten ihre Häuser hinter riesigen Felsbrocken und machten sich einfach unsichtbar.
Ikaria wird die Insel der Hundertjährigen genannt, wo die Menschen vor lauter Lebensfreude zu sterben vergessen haben. Hier trifft man auf viele „alte“ Menschen, die sehr vital und selbstständig sind. In Griechenland und in der ganzen Welt wurde in den Medien viel darüber berichtet.
Die Menschen auf der Insel Ikaria leben den Moment: Sowohl alte als auch junge Menschen sind stark in die Gesellschaft eingebunden. Keiner gehört zum alten, überflüssigen Eisen. Das Alter spielt genau so wenig eine Rolle wie die Zeit.
Eine Besonderheit auf Ikaria ist das Bergdörfchen Raches, wo man noch nach der Sonnenuhr lebt. Das Dorf, das anders tickt, lebt nach den Rhythmen der Natur.
Die Geschäftszeiten in Raches sind wirklich ungewöhnlich. Sie richten sich nach der Sonne und nicht nach der Uhr. Um zehn Uhr vormittags öffnen alle Geschäfte und bleiben im Hochsommer durchgehend bis drei Uhr morgens geöffnet.
Zur griechische Mittagszeit, konkret zwischen zwölf und fünfzehn Uhr, wenn die Hitze am größten ist, trinkt man unter den riesigen, schattigen Platanen mitten auf dem Dorfplatz einen Kaffee und sieht den Griechen beim Tavli zu: Frauen kaufen ein, die Kinder schlendern nach Schulschluss laut durch die Platia. Danach ist Siesta und das Dorf wirkt verlassen.
Zwischen Juni und September lohnt sich ein Besuch abends nach dem Dunkelwerden. Am spannendsten jedoch sind die Abende im Juli bis August, der Haupturlaubszeit der Griechen: Denn nach 23.00 Uhr erwacht das Dorf erst richtig zum Leben. Überall ist es laut und lebendig, die Tavernen voller Griechen. Getrunken wird Tsipouro, der einheimische selbstgebrannte oder der berühmte ikariotische Wein. Kleine Kinder spielen Fangen zwischen den Tischen, sogar einkaufen kann man bis in die frühen Morgenstunden noch in den zahlreichen kleinen Geschäften. In Raches wird die ganze Nacht durchgefeiert.
Diese besondere und typisch Art der Inselbewohner mit der Zeit umzugehen, kann man in Raches noch ganz unverfälscht erleben. In den kleinen Kaffees oder Tavernen kann man stundenlang einfach sitzen, ohne ständig gefragt zu werden, ob man noch etwas bestellen möchte.
Es gibt keinen Konsumzwang und die leeren Teller werden auch nicht weggeräumt. Das wäre für die Ikarer unmöglich, käme einem Rausschmiss gleich. Der Gast bestimmt selbst, wie viel Zeit er hier verbringen möchte. Genauso lange kann es dauern, bis ein Gast bewirtet wird. Das hat nichts mit Faulheit oder Nachlässigkeit des Wirtes zu tun, sondern mit seinem eigenen Gutdünken, den Gast erst einmal ankommen zu lassen. „Schlecht fürs Geschäft“ mögt ihr einwenden, aber hier gilt eben nicht der Satz „Zeit ist Geld“ sondern „Zeit ist Leben“. Die Ikarer wissen: Zeit ist wertvoller als Geld, sie ist unwiederbringlich.
Vielleicht könnt auch ihr hin und wieder eure Lebenszeit ohne Schuldgefühle auskosten. Das könnte das Geheimnis eines langen Lebens sein, das die Insel Ikaria hütet.