Von: mk
Bozen – Hass im Internet scheint gerade in Zeiten der Corona-Krise allgegenwärtig. Die Einschränkungen und das Gefühl der Hilflosigkeit treiben manche in den Wahnsinn. Den Frust in die Tastatur zu hauen, scheint für viele das einzige Ventil zu sein. Doch damit macht man sich selbst und anderen keinen Gefallen.
Dem Thema Wut im Netz bei Corona widmen sich Hilfsnetzwerk PSYHELP Covid 19 und Europäische Allianz gegen Depression. Beide Organisationen empfehlen zehn Verhaltensregeln für alle, die auf Foren im Internet und in sozialen Medien Beiträge posten.
Wut ist als Emotion dazu da, in verzweifelter Lage noch handlungsfähig zu bleiben. Mit den letzten Reserven aktiviert das vom Bewusstsein unabhängige autonome Nervensystem, der Sympathicus, seine äußersten Kräfte. Er muss kämpfen, weil Flucht nicht mehr möglich ist. Das Gesicht verzerrt sich, um den Gegner zu verscheuchen, das Gebiss ist gebleckt zum raubtierhaften Zubeißen, die gesamte Muskulatur ist zum Zittern gespannt, der Blutdruck saust in die Höhe, das Herz schlägt wild und die Atmung wird tiefer.
Soviel zur körperlichen Seite der Wut. Psychisch gesehen, ist er purer Stress. Das Gehirn ist bereits müde und abgekämpft und neigt zu primitiven Lösungen: Es gibt eine Misere und jemand muss schuld daran sein. Auch der Handlungsplan, den das Stirnhirn entwirft, ist denkbar einfach: Ich zeige meine Wut und hoffe, dass ich den Gegner damit verscheuche.
Wenn so elementare Gefühle auf gefinkelte Elektronik treffen, werden sie irgendwie anders. Ich hasse eine Dauersituation wie die Coronakrise, aber einfacher wäre es, Menschen zu hassen. Kinder hassen in der Pubertät manchmal ihre Eltern, einfach weil sie viel zu präsent und damit lästig sind. Enttäuschte, Arbeitslose, Vereinsamte, Verarmte hassen zunächst die vielen gesundheitlichen und sozialen Gefahren der Krise, aber auf die Dauer ist es leichter, die Verantwortlichen, die regierenden Politiker dafür zu hassen, dass sie die Krise akzeptieren und beeinflussen wollen.
Demokratie lässt freie Meinungsäußerung zu und die sozialen Netzwerke fordern sie geradezu heraus. Da scheint es größtmögliche Öffentlichkeit bei geringster Zensur zu geben. „Da erreicht mein Schimpfen Tausende und verletzt Wenige. Und die Wenigen sollen nicht so empfindlich sein, sie haben es ja sicher besser als ich, sind heimlich schon geimpft, reich, privilegiert und dem Risiko viel weniger ausgesetzt – und sie sind ohne eigene Gefahr kontaktierbar“, erklären Roger Pycha und Sabine Cagol, die für das Netzwerk PSYHELP und die Europäischen Allianz gegen Depression Stellung zum Thema nehmen.
Verwendet werde der Dialekt, die emotionale Sprache der Kindheit. Die „Täter“ verfallen in extreme Beschimpfungen, das gibt ihnen gefühlt ein Stück weit Macht zurück. „Im Netz spüre ich zwar meine Wut ganz deutlich, aber da ist kein realer Gegner. Die Auseinandersetzung wird ein bisschen zu ihrer eigenen Karikatur, ich kann in aller Sicherheit Bosheiten ablassen. Es ist, wie wenn ich Raketen per Knopfdruck zünden könnte. Sie schlagen weit entfernt ein, und ich merke gar nicht, welche Verwüstung ich anrichte. Ich bekomme bestätigende Antworten, die mich aufschaukeln, weil ich mich in der Gruppe anonym Gleichgesinnter stärker fühle. Oder ich bekomme Kritisches retour, und kann mich daran weiter erbosen, habe plötzlich mehrere Sündenböcke, drücke immer wieder den Auslöser. Und ich kann was tun“, erklären Pycha und Cagol.
Das Dumme daran ist: Die Aussagen, die Primitivität sind verewigt und tausendfach reproduzierbar. „Sie bewirken gar nichts oder fürchterlich viel, das habe ich nicht in der Hand. Ich muss später zu Bemerkungen stehen, die mehr mit der Krisenverzweiflung als mit mir zu tun haben. Aber sie stammen nun einmal von mir. Sie fallen auf mich zurück“, erklären Pycha und Cagol.
Wie kann man sich also sicher und verantwortungsvoll im Netz bewegen? Hier gibt es zehn Regeln dafür:
1. Am meisten hilft das Bewusstsein, dass soziale Netzwerke zu Missbrauch einladen können wie Alkohol, Haschisch oder Kaffee. Also Vorsicht bei der Nutzung.
2. Im Netz zu lesen ist eine Sache, will ich kommentieren und eigene Ideen einbringen, ist größere Vorsicht geboten.
3. Wenn ich denn schreiben muss, überlege ich den Inhalt genau.
4. Ich kläre, was ich damit erreichen will.
5. Ich suche mindestens drei Argumente, die meine Behauptung stützen, und verknüpfe sie.
6. Am besten ich schreibe in der Hochsprache, das schafft eine gewisse Distanz.
7. Auf jeden Fall muss ich meinen Text überschlafen.
8. Am nächsten Tag überprüfe ich, ob ich immer noch dasselbe Ziel erreichen will.
9. Ich diskutiere seinen Inhalt mit Freunden oder guten Gesprächspartnern.
10. Ich korrigiere nach ihren Argumenten.
Wenn ein Text mindestens drei all dieser Stationen durchgemacht hat, sei er bereichert und vielseitig geworden, erklären Pycha und Cagol: „Er ist getränkt in einem Intelligenzbad der Verzögerung und Veränderung. Dann erst kann er ins Netz. Die wütende Dummheit, die dumme Wut sind ausgewaschen. Er ist die Visitenkarte meiner besseren Anteile.“