Von: apa
Die zwei Jahrzehnte seit der ersten großen Runde der EU-Osterweiterung sind für die Länder Zentral- und Osteuropas eine Erfolgsgeschichte gewesen. Gemessen am BIP pro Kopf haben sie wirtschaftlich kräftig aufgeholt, und Länder wie Tschechien oder Slowenien sind nun auf dem Niveau vieler westeuropäischer Länder. Dennoch sei es nun an der Zeit, dass diese Länder eine neue Wirtschaftsstrategie entwickeln, sagt das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).
Besonders stark aufgeholt haben, ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau, das 2004 bei etwa 30 bis 40 Prozent des Durchschnitts der EU-15 lag, Rumänien, Bulgarien, Polen und die baltischen Staaten. Litauen und Estland liegen heute beim BIP pro Kopf bei mehr als 80 Prozent der alten EU-Länder, also etwa auf dem Niveau Tschechiens und Sloweniens, die sich von einem höheren Niveau ausgehend weniger stark verbessert haben. Polens BIP pro Kopf sei 1990 etwa so hoch gewesen wie jenes von Südafrika, Brasilien, Nordmazedonien und der Türkei – in den folgenden Jahren habe Polen diese Volkswirtschaften aber alle überholt, so das wiiw.
Dass die EU-Mitgliedschaft für den wirtschaftlichen Erfolg dieser Länder eine bedeutende Rolle gespielt habe, sei unbestritten, sagen die wiiw-Ökonomen. Mit den notwendigen institutionellen Reformen, die von den damaligen Kandidatenländern durchgeführt wurden, und dem Abbau von Handelsbarrieren zwischen “neuen” und “alten” Mitgliedstaaten strömten ausländische Direktinvestitionen (FDI) in die Region, um von der kostengünstigen, qualifizierten Arbeitskraft zu profitieren. Infolgedessen wurden die EU-CEE-Länder zu wichtigen Knotenpunkten in internationalen Produktionsnetzwerken, insbesondere in mittel-hochtechnologischen Fertigungssektoren.
Doch nach 20 Jahren werde ein Wandel von diesem FDI-basierten Wachstumsmodell in den EU-CEE-Ländern immer dringlicher, heißt es in der Spezialausgabe des wiiw-Monatsreports, der eine Bilanz der EU-Osterweiterung zieht. Vor allem nach der globalen Finanzkrise 2008/2009 habe das Potenzial von FDI zur Schaffung von Arbeitsplätzen abgenommen, und das Wachstum der Arbeitsproduktivität habe nie wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Die “tief hängenden Früchte” der EU-Mitgliedschaft seien zum Großteil bereits gepflückt worden, nun sei eine strategische Neuausrichtung zu einem neuen, innovationsgetriebenen Wachstumsmodell notwendig.
Für eine moderne Industriepolitik müssten die Staaten eine proaktivere Rolle bei der Vernetzung wichtiger Akteure in der Wirtschaft spielen, darunter der Privatsektor, akademische Institutionen, Schlüsselministerien und Wirtschaftsförderungsagenturen, lautet die Empfehlung der Wirtschaftsforscher. Zweitens sei es wichtig, die Industriepolitik mit den Regeln und Vorschriften der EU zu harmonisieren und das Beste aus dieser Integration zu machen. Außerdem müssten die jungen EU-Länder ihre Herangehensweise an die FDI-Förderung überdenken, wenn sie über ihre aktuelle Rolle als verlängerte Werkbank in der Wertschöpfungskette hinausgehen wollen. Institutionelle Verbesserungen und Reformen müssten Hand in Hand gehen mit Bemühungen der Politik, korrupte Praktiken und verzerrende Eingriffe zu vermeiden. Schließlich seien auch strukturelle Veränderungen notwendig, wozu auch ein umfassendes soziales Sicherheitsnetz gehöre, um sicherzustellen, dass weder Menschen noch Regionen zurückbleiben.
Die Gewinne des wirtschaftlichen Fortschritts der vergangenen 20 Jahre seien nicht gleichmäßig verteilt worden, stellen die Wirtschaftsforscher fest. Es gebe nach wie vor große regionale Unterschiede, und einige Regionen würden bei der industriellen Entwicklung und beim Lebensstandard weit unter dem EU-Durchschnitt liegen. Demnach weisen die Hauptstädte der CEE-Länder in der EU nun BIP-pro-Kopf-Niveaus auf, die teilweise weit über dem EU-Durchschnitt liegen, etwa die tschechische Hauptstadtregion Prag mit 207 Prozent des EU-Schnitts, der Großraum Bukarest mit 177 Prozent und Warschau mit 162 Prozent. Diese Regionen hätten auch komplexere Spezialisierungen in globalen Wertschöpfungsketten, die über Produktion und Montage hinausgehen. Andererseits liegen die BIP-pro-Kopf-Niveaus der ärmsten Regionen in diesen drei Ländern bei 60, 46 und 54 Prozent des EU-Durchschnitts.
Besonders in den letzten Jahren habe die EU-CEE-Region auch mit institutionellen Rückschritten zu kämpfen, was in Ungarn und Polen sogar zu einer vorübergehenden Aussetzung der Auszahlung von EU-Mitteln geführt habe. Das sei ein besorgniserregender Trend, da sich die institutionelle Umgebung normalerweise verbessern sollte, wenn sich Volkswirtschaften entwickeln.
Eine weitere große Herausforderung betrifft die Menschen – oder genauer gesagt, den Mangel an Menschen. Laut Umfragen leiden mehr als 30 Prozent der Unternehmen in der verarbeitenden Industrie Polens unter einem Arbeitskräftemangel, in Slowenien sind es mehr als 25 Prozent und in der Slowakei und in Ungarn 20 Prozent. Zusammen mit den Niederlanden sind das die Länder in der EU, die sich am schwersten tun, genügend Arbeitskräfte zu finden. Es werde für diese Länder daher unbedingt nötig sein, die Beschäftigungsquoten zu erhöhen, Einwanderung und Familiengründungen zu fördern und Abwanderung zu minimieren.
Die Abwanderung ist eines der größten Probleme der Länder Zentral- und Osteuropas. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und noch mehr nach dem EU-Beitritt der CEE-Länder setzte in Europa eine Migration ein, wie man sie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr erlebt hatte. Nur drei Länder – Tschechien, Slowenien und die Slowakei – verzeichneten positive Wachstumsraten von 4,7 Prozent, 5,8 Prozent und 1,1 Prozent. Alle anderen EU-CEE-Länder erlebten einen Bevölkerungsrückgang, insbesondere Bulgarien, Lettland und Litauen (um etwa 16 Prozent). Dies steht in starkem Kontrast zu Österreich, Deutschland und Spanien, die in den letzten Jahrzehnten durch kontinuierliche Ost-West-Migration Bevölkerungswachstum verzeichneten. Neben der Abwanderung trugen auch niedrige Geburtenraten und eine nur langsame Verbesserung der Lebenserwartung zur negativen Bevölkerungsdynamik in der EU-CEE-Region bei.
Der durchschnittliche natürliche Bevölkerungswandel, also die Lücke zwischen Geburten und Todesfällen, lag in allen EU-CEE-Ländern im Zeitraum 2004 bis 2022 bei oder unter Null – das gilt auch für Österreich, Deutschland und Spanien. Besonders stark war der natürliche Bevölkerungsrückgang in Ungarn, Lettland, Litauen und Bulgarien, was auf sinkende Geburtenraten zurückzuführen ist. Das positive Bevölkerungswachstum in den “alten” EU-Mitgliedsstaaten und in einigen EU-CEE-Ländern wurde nur durch positive Nettomigration erreicht. In allen EU-CEE-Ländern außer Tschechien, Estland, Ungarn und Slowenien war die durchschnittliche Nettomigration über 2004 bis 2022 Null oder negativ.
Chance und Risiko zugleich könnte eine Erweiterung der EU um die Länder des westlichen Balkans, Georgien, Moldawien und die Ukraine sein, meinen die wiiw-Ökonomen. Einerseits hätten die neu integrierten Länder einen bedeutenden Lohnkostenvorteil, der die aktuell starken Positionen der EU-CEE-Länder als Assembler in den EU-Wertschöpfungsketten beeinträchtigen könnte. Andererseits könnte genau dieser Schock die EU-CEE-Länder dazu bringen, ihre Positionen in diesen Wertschöpfungsketten zu verbessern, so die Analyse.
Die notwendige Entkopplung des Wachstums der Region von fossilen Brennstoffen und die Schaffung einer grüneren Wirtschaft werde Umschulungs- und Umverteilungsmechanismen erfordern. Den Arbeitskräftemangel werde man angehen müssen, indem Möglichkeiten der Automatisierung genutzt und Frauen, Jugendliche, ältere Menschen und ausländische Arbeiter stärker in den Arbeitsmarkt eingebunden werden.