Von: APA/Reuters
Die Europäische Zentralbank (EZB) die Kurswende eingeleitet und senkt erstmals seit 2019 die Zinsen. Die Währungshüter um Notenbankpräsidentin Christine Lagarde setzten den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent nach unten, wie die EZB am Donnerstag in Frankfurt mitteilte. Den am Finanzmarkt maßgeblichen Einlagensatz, den Banken für das Parken von Geld bei der Zentralbank erhalten, senkte sie von bisher 4,00 auf 3,75 Prozent.
Ob es heuer noch Zinssenkungen geben wird, blieb am Donnerstag offen: “Der EZB-Rat legt sich nicht im Voraus auf einen bestimmten Zinspfad fest”, erklärte die EZB mit Blick auf den weiteren Kurs. Notenbankchefs der Euro-Länder halten aber nach Angaben von Insidern eine erneute Zinssenkung im Juli für unwahrscheinlich. Währungshüter seien auf der jüngsten Zinssitzung übereingekommen, keine Orientierung für die Öffentlichkeit für ihr nächstes geldpolitisches Treffen am 18. Juli zu geben, sagten fünf Insider der Nachrichtenagentur Reuters. Denn die Inflationsentwicklung sei unsicher und holprig. Die EZB lehnte eine Stellungnahme zu den Informationen ab.
Das Lohnwachstum in der 20-Länder-Gemeinschaft war im ersten Quartal stärker ausgefallen als erwartet worden war. Zudem hat sich die Inflation im Dienstleistungssektor als sehr hartnäckig erwiesen. Den Insidern zufolge richten die Währungshüter ihren Blick nun auf die Zinssitzung am 12. September, wenn ihnen neue Wirtschaftsprognosen der Notenbank-Volkswirte – die sogenannten Projektionen – zu ihren Beratungen vorliegen werden. Zudem würden bis dahin noch weitere Inflationsdaten veröffentlicht. Einer der Insider merkte an, dass eine Zinssenkung im September gerechtfertigt wäre, sollte die Inflationsprognose der Notenbank-Volkswirte für das Schlussquartal 2025 bei 1,9 bis 2,0 Prozent bleiben, wo sie schon seit einiger Zeit liege.
Der Beschluss zur Zinssenkung fiel im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht einstimmig. Die Entscheidung habe zwar eine große Mehrheit gefunden, sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag in einer Pressekonferenz nach dem Zinsbeschluss. Den Namen des Abweichlers wollte sie nicht verraten. “Ich überlasse es Ihrem Scharfsinn, herauszufinden, wer das ist”, sagte Lagarde zu Journalisten. Dem obersten Beschlussorgan gehören die sechs Mitglieder des Direktoriums der EZB und die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der 20 Mitgliedstaaten an.
Für Lagarde ist es noch zu früh, einen Sieg über die Inflation auszurufen. Die Teuerungsrate werde wahrscheinlich in der Eurozone bis ins nächste Jahr hinein über dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB) bleiben, sagte Lagarde in der Pressekonferenz.
Die Teuerungsrate in der 20-Länder-Gemeinschaft war von 2,4 Prozent im April auf 2,6 Prozent im Mai gestiegen. Damit hat sich die Rate wieder etwas mehr vom EZB-Ziel von 2,0 Prozent entfernt, das die Notenbank als optimales Niveau für den Währungsraum anstrebt. Auch die viel beachtete Kernrate, in der schwankungsreiche Preise ausgeklammert bleiben, zog von April auf Mai von 2,7 auf 2,9 Prozent an. Die EZB-Ratsmitglieder Fabio Panetta und Mario Centeno, die Notenbankchefs von Italien und Portugal, bemühten sich nach Veröffentlichung der Daten, aufkeimende Sorgen hinsichtlich der Inflationsentwicklung zu beschwichtigen.
Auch hat die EZB ihre Inflationserwartung für heuer und 2025 etwas nach oben schrauben müssen. Sie geht nun von 2,5 Prozent Teuerung im laufenden Jahr, statt von 2,3 Prozent aus. 2025 soll der Preisauftrieb mit 2,2 Prozent weiter über dem Zielwert liegen, bisher war die EZB von 2,0 Prozent ausgegangen. Für 2026 werden nach wie vor 1,9 Prozent erwartet.
Die Notenbank-Ökonomen erwarten zudem für heuer ein Wirtschaftswachstum in der Eurozone von 0,9 Prozent. Noch im März waren sie lediglich von 0,6 Prozent ausgegangen. Für 2025 gehen sie dann von einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,4 (März-Prognose: 1,5) Prozent aus, für 2026 rechnen sie unverändert mit plus 1,6 Prozent.
Die Notenbank-Volkswirte erarbeiten viermal im Jahr Konjunktur- und Inflationsprognosen für den Euroraum. Diese Projektionen liegen den Währungshütern zu ihren Beratungen auf den Zinssitzungen im März, im Juni, im September und im Dezember vor.
Die Zinssenkung stößt in der Finanzwelt und bei der Wirtschaft weitgehend auf Zustimmung. Vertreter der Banken-Lobby, die mit höheren Zinsen mehr Geld verdienen, warnten allerdings umgehend, dass die Währungshüter ihre Geldpolitik nicht zu schnell weiter lockern dürften. Es sei wichtig, dass die EZB erst gar nicht die Erwartung einer dichten Abfolge von Zinssenkungen aufkommen lasse, sagte Hauptgeschäftsführer Heiner Herkenhoff vom Bankenverband BdB am Donnerstag. “Es gibt keinen Autopiloten für weitere Zinssenkungen.”
Auch Sparkassenpräsident Ulrich Reuter vom DSGV mahnte zur Vorsicht. “Die letzten Meter bei der Inflationsbekämpfung sind die schwierigsten.” Reuter betonte: “Das schlimmste Szenario wäre ein erneuter Anstieg der Inflation, der die EZB zwingen würde, zu weitgehende Zinssenkungen zurückzunehmen.” Das würde Vertrauen und Berechenbarkeit beschädigen.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erklärte, die EZB habe den Abstieg vom Zinsgipfel begonnen. “Er muss und wird länger dauern als der Weg bergauf, denn die Inflation geht nur langsam zurück”, mahnte GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen. “Vor weiteren Zinsschritten sind daher klare Daten nötig, die zeigen, dass der Preisdruck sich verlässlich und dauerhaft abschwächt.” Bis dahin sollte die EZB die auch trotz der ersten Zinssenkung restriktive geldpolitische Orientierung beibehalten.
Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) nannte den seit langem angekündigten Schritt der EZB nachvollziehbar. “Da die Reduzierung bereits in den Märkten eingepreist war, sind die positiven Wirkungen auf die gewerbliche Wirtschaft aber eher überschaubar”, erläuterte DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Von fast ebenso großer Bedeutung sei die andauernde Unsicherheit in den Märkten. “Die Inflation sinkt nur langsam, und der Druck zum Beispiel durch die Lohnentwicklung auf die Preise ist weiterhin hoch.” Die DIHK wiederholte ihr Mantra, dass die deutsche Regierung “endlich umfassende Strukturreformen für den Wirtschaftsstandort Deutschland” anschieben müsse.