AFI-Präsident warnt

„Kapitulation vor den Umständen“: Privatmedizin auf dem Vormarsch

Freitag, 19. Juli 2024 | 10:48 Uhr

Von: mk

Bozen – Immer mehr Menschen nutzen private Gesundheitseinrichtungen, um lange Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitswesen zu vermeiden. Das wachsende Interesse an privaten Krankenversicherungen bestätigt dies, wie aus dem Sonderteil des aktuellen AFI-Barometers – Sommer 2024 hervorgeht. Die Ergebnisse deuten auf eine gewisse „Kapitulation vor den Umständen“ hin. Im Moment sind Arbeitnehmende, die eine private Krankenversicherung abgeschlossen haben, zufrieden mit ihrer Wahl, doch AFI-Präsident Andreas Dorigoni warnt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die hypothetische Ausbreitung eines privaten Systems vor dem Hintergrund eines öffentlichen Gesundheitswesens, das nur auf Notfälle ausgerichtet ist, für chronisch oder schwer kranke Menschen zu unzumutbaren Situationen führen würde.“

Wie viel geben die Südtiroler Arbeitnehmenden für Gesundheitsleistungen aus? Wie weit sind private Krankenversicherungen bereits verbreitet? Das AFI | Arbeitsförderungsinstitut hat diese beiden Aspekte in der Sommerausgabe seines Barometers untersucht.

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Die Arbeitnehmenden in Südtirol geben an, dass sie sich mit ihren Anliegen in Sachen Gesundheit häufig an private Anbieter wenden. Aufgrund der chronischen Organisationsmängel im öffentlichen Gesundheitswesen wird die Inanspruchnahme privater Dienstleistungen oft zur Notlösung. „Nicht zuletzt wegen der Versicherungen, die einen breiten Schutz versprechen und die Erwartungen der Kunden offenbar ausreichend erfüllen, greifen viele auf eine kostenpflichtige Versorgung zurück“, sagt AFI-Direktor Stefan Perini.

Privatausgaben hauptsächlich für Fachvisiten

Wie das AFI-Barometer verdeutlicht, haben in den letzten zwölf Monaten 42 Prozent der Befragten private medizinische Leistungen in Anspruch genommen – ein hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, dass es sich bei den Nutzern um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen handelt, deren Löhne oft nicht mit den Lebenshaltungskosten Schritt halten. 67 Prozent der Antwortenden gaben an, sich aufgrund von dringenden Umständen an private Gesundheitseinrichtungen gewandt zu haben, während für 33 Prozent hingegen die vermutete bessere Qualität ausschlaggebend gewesen ist.

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Nur etwa jede fünfte Person gab in den letzten zwölf Monaten keinen Cent für medizinische Versorgung oder Medikamente aus, während jede zweite zwischen null und 500 Euro aus der eigenen Tasche bezahlt hat. Jede fünfte wiederum gab zwischen 500 und 2.000 Euro aus. Mehr als 2.000 Euro gaben zwischen fünf und sieben Prozent der Befragten aus – entweder für sich oder für die eigene Familie. Bei den Gesundheitsausgaben sind Fachvisiten der wichtigste Posten. Hier schwankt der Anteil zwischen 58 und 53 Prozent, je nachdem, ob die Ausgaben die eigene Person oder die Familienangehörigen betreffen. Es folgen die Ausgaben für Medikamente (37 bzw. 39 Prozent) und schließlich die Ausgaben für chirurgische Eingriffe (fünf bzw. acht Prozent).

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Private Krankenversicherung weit verbreitet

Etwa ein Drittel der Befragten hat bereits eine Krankenversicherung für sich selbst oder für die ganze Familie abgeschlossen, während 18 Prozent diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Aufgeschlüsselt nach Sprachgruppen steigt der Anteil der bereits versicherten Personen bei den deutschsprachigen Befragten auf 35 Prozent, während er bei den italienischsprachigen bei etwa 25 Prozent liegt – eine Zahl, die mit den gesamtstaatlichen Daten einer von der Wirtschaftszeitschrift Milano Finanza im Jahr 2023 veröffentlichten Studie exakt übereinstimmt. „Die Hiobsbotschaften über den Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens und eine verstärkte Werbung für Versicherungsprodukte haben offensichtlich bereits die Gewohnheiten der Südtiroler Arbeitnehmer beeinflusst“, stellt AFI-Forscherin Maria Elena Iarossi fest.

In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass die Zufriedenheit mit den privaten Krankenversicherungen aktuell recht hoch ist: Auf einer Skala von 1 (überhaupt nicht) bis 5 (sehr) geben 67 Prozent derjenigen, die eine Krankenversicherung abgeschlossen haben, an, zufrieden zu sein (Bewertungen zwischen vier und fünf Punkten). Andererseits waren nicht unerhebliche zwölf Prozent der Versicherten unzufrieden (Bewertung ein oder zwei Punkte).

Bei diesen Ergebnissen muss man sich allerdings vor Augen halten, dass die Befragten der Gruppe der Erwerbstätigen angehören, d.h. sie sind weniger als 65 Jahre alt, in der Regel bei guter Gesundheit oder haben zumindest keine größeren gesundheitlichen Probleme. Sie zählen somit zur idealen Klientel für Versicherungsgesellschaften: Die Versicherten stellen eine ausreichend große und zudem kostengünstige Gruppe in Bezug auf die Leistungen dar, die im Schadensfall bedarfsgerecht unterstützt werden müssten. Allerdings warnen Expertinnen und Experten bezüglich der Erweiterung des Versichertenkreises bereits vor künftigen Anpassungen der Versicherungen, die durch eine aufmerksame Kalibrierung der Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen die Rentabilität für die Versicherungsgesellschaften auf einem angemessenen Niveau halten sollen.

AFI mahnt zur Vorsicht

Das AFI rät dazu, beim Abschluss von Versicherungspolicen besonders auf die Ausschlussklauseln zu achten – vor allem auf die Altersgrenzen, die oft bei 69 Jahren liegen. Zudem wirft das AFI eine grundsätzliche Frage auf: Wie viel Spielraum bleibt für andere Konsumgüter, wenn Arbeitnehmende zunehmend für Renten- und Gesundheitsleistungen privat aufkommen müssen, zugleich aber die Wohnkosten nicht sinken und die Löhne stagnieren? Eine Studie des Forschungszentrums Intesa San Paolo kommt in diesem Zusammenhang zum Schluss, dass sich, auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, die Zusammensetzung des Warenkorbs der Verbraucher mittelfristig deutlich verschieben könnte, hin zu einem steigenden Kostenanteil der Ausgabenkapital „Wohnen“ und „Gesundheit“.

Nützliche Hinweise zum Umgang mit Versicherungen findet man auf der Homepage der Verbraucherzentrale Südtirol unter www.consumer.bz.it.

Bezirk: Bozen

Kommentare

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6 Kommentare auf "„Kapitulation vor den Umständen“: Privatmedizin auf dem Vormarsch"


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Homelander
Homelander
Universalgelehrter
1 h 52 Min

Immer mehr Menschen nutzen private Gesundheitseinrichtungen, um lange Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitswesen zu vermeiden…das ist ja so gewollt alles, der sichs leisten kann und die ander haben halt Pech gehabt… Warum muss man eigentlich dann noch Steuer bezahlen? Die können sie dann ja auch streichen und wir gehen  dann alle privat….

N. G.
N. G.
Kinig
1 h 5 Min

Nun, gewollt ist das nicht. Denn wer weiß was ne private Versicherung kostet, lässt als Normalverdiener schnell die Finger davon. Was private Untersuchungen kosten, weiss man, kann sich jeder selbst entscheiden was es ihm Wert ist.
Ich halte mich trotz meiner gesundheitlichen Probleme an die Gesetzliche, so wichtig nehm ich mich nicht, auch meine Krankheiten nicht, dass ich das System überlaste. Ich kann warten, hab Zeit. Alle anderen, von mir aus, können und dürfen gern bezahlen, wenn sie denn meinen sie tun sich damit was Gutes!

thomas
thomas
Kinig
1 h 44 Min

Das wird für viele Südtiroler ein ungutes Erwachen geben, spätestens dann, wenn man nach überschreiten des Alterslimits dann irgendwann wirklich medizinische Betreuung braucht. Da bahnt sich eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe an

N. G.
N. G.
Kinig
1 h 3 Min

Ich kann sagen, meine Mutter war alt, ist aber medizinisch TOP versorgt worden.
Deine Katastrophe gibt es nur in deiner Vorstellung.

RealistischerIdealist
59 Min 45 Sek

Keine Sorge die SVP wird die gehälter anheben! Ich meine ihre gehälter… evtl werden auch neue gut bezahlte posten geschaffen, wie zb für herrn zerzer

sixtus
sixtus
Tratscher
39 Min 45 Sek

Und in welchem La d gibt es keine Zweiklassenmedizin? Südtirol wohl nicht mehr oder Herr Landesrat? Wie wäre es wenn diese Kosten die Krankenkasse zu 100% tragen müsste, die Sanität ist nicht im Stande den Patienten zu betreuen. Oder die Zuwendung an die Sanität müsste gekürzt werden, da sie Dienste nicht anbietet und somit keine Ausgaben hierfür hat.

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