Von: Ivd
Bozen – Muren, Lawinen, Steinschläge: Der Klimawandel lässt in Südtirol die Gefahren in den Bergen wachsen – und mit ihnen die Zweifel an gängigen Schutzmaßnahmen. Der renommierte Südtiroler Glaziologe Georg Kaser stellt nun eine unbequeme Forderung gegenüber SALTO in den Raum: „Wir müssen darüber sprechen, wo umgesiedelt werden muss.“
Der Experte, der sich seit Jahrzehnten mit Gletscherschmelze und Naturgefahren beschäftigt, hält viele der in den letzten Jahren errichteten Schutzbauten für fragwürdig. „Ein falsch gebauter Damm kostet enorm viel“, warnt Kaser. Wenn das Zerstörungspotenzial einer Naturgefahr überwiege, sei es schlichtweg nicht mehr sinnvoll, bestimmte Infrastrukturen überhaupt noch zu schützen.
Kein Tabuthema mehr
Was in der Schweiz bereits öffentlich diskutiert wird, sei in Südtirol bislang nur hinter vorgehaltener Hand Thema. Dabei zeigt die Realität längst, wie groß die Herausforderungen sind. „Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass man sich mit solchen Bauten in Zukunft vor Extremwetterereignissen schützen kann“, erklärt Kaser. Denn diese Ereignisse würden weiter zunehmen – in Frequenz und Intensität.
Ein Kernproblem sei, dass in den 1970er- bis 1990er-Jahren vielfach günstiges Bauland in sogenannten roten Zonen vergeben wurde – also in Gebieten mit höchstem Gefahrenpotenzial. Laut Kaser seien viele dieser Gebäude „in absehbarer Zeit nicht mehr haltbar“.
Millionenprojekte auf dem Prüfstand
Ein Beispiel für die Dimension des Problems ist das Schutzprojekt in Kurzras im hintersten Schnalstal: Ein 860 Meter langer Lawinenablenkdamm mit bis zu 22 Metern Höhe soll künftig Wohnmobile, Straßen und Gletscherbahnen vor Muren schützen. Die Kosten: 5,5 Millionen Euro. Allein 77.000 Tonnen Gestein wurden dafür verarbeitet. Landeschef Arno Kompatscher betonte beim Lokalaugenschein, dass solche Projekte wichtige Investitionen für die wirtschaftliche Tätigkeit in der Peripherie seien.
Für Kaser jedoch stellt sich auch eine ökologische Frage: Was wird damit geschützt und wie viel CO₂ wird beim Bau emittiert? Allein ein Bagger, der täglich 300 Liter Treibstoff verbraucht, verursacht rund eine Tonne CO₂ pro Tag. Wird der Bagger zwei Wochen eingesetzt, entspricht das dem gesamten Jahres-CO₂-Budget, das laut Pariser Klimaabkommen jedem Menschen zusteht.
Zwischen Schutzpflicht und Eigenverantwortung
Peter Egger, Direktor des Amts für Wildbach- und Lawinenverbauung West, verweist auf die geltenden Gefahrenzonenpläne als Entscheidungsgrundlage für technische Maßnahmen. 99 von 116 Gemeinden verfügen mittlerweile über einen solchen Plan. Weitere 17 sind in Arbeit.
Doch laut Kaser reicht das nicht. Er fordert einen Paradigmenwechsel. Laut dem Expertem brauche es eine öffentliche Diskussion darüber, welche Schutzmaßnahmen die öffentliche Hand übernehmen soll und wo ein Rückzug sinnvoller wäre. Die Schweiz sei hier Vorbild, wo man stärker auf die Eigenverantwortung der Bürger setze als auf staatliche Fürsorge.
Ein Umdenken, das unbequem sein darf
Die Naturgefahren in den Alpen sind keine neue Erscheinung, doch ihre Dynamik hat sich verändert – und damit auch die Anforderungen an Politik und Gesellschaft. Kaser warnt vor kurzsichtigen Entscheidungen, bei denen einzelne Gebäude oder Straßen um jeden Preis verteidigt werden. Stattdessen brauche es langfristiges Denken, auch wenn das bedeutet, bestimmte Orte aufzugeben.
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