Von: mk
Bozen – Die experimentelle Wirtschaftsforschung kann einen Beitrag zum Verständnis leisten, wie die Eindämmungsmaßnahmen in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie am besten anzulegen sind. In einer Studie von vier italienischen Ökonomen, die in den Working Papers del National Bureau of Economic Research (NBER WP) veröffentlicht worden ist, wird aufgezeigt, dass die Einhaltung der von der Regierung auferlegten Ausgangsbeschränkungen in direktem Zusammenhang mit der Wahrnehmung steht, wie lange diese Maßnahmen andauern werden.
Die COVID-19-Pandemie hat Italien auf besonders dramatische Weise erfasst und zwingt das ganze Land zu rigorosen Isolationsmaßnahmen, um die Ansteckung zu verlangsamen. Viele andere Staaten haben mittlerweile vergleichbare Schritte gesetzt. Laut aktuellen Schätzungen sind derzeit weltweit rund zwei Milliarden Menschen solchen Restriktionen unterworfen. Wie wirksam diese Restriktionen sind, hängt allerdings davon ab, wie sehr sich die Bürgerinnen und Bürger daran halten. Dieses Verhalten kann von vielen Faktoren beeinflusst werden, wie dem Risikobewusstsein, der Klarheit der Regeln, der Sanktionen im Falle einer Überschreitung, dem Vertrauen in die Behörden und der Bedeutung der wirtschaftlichen und psychologischen Kosten der Isolation.
Ein weiterer Schlüsselfaktor, von dem die Einhaltung der Regeln abhängt, wird in der Studie Compliance with COVID-19 social-distancing measures in Italy: the role of expectations and duration beleuchet, die in den Working Papers des National Bureau of Economic Research veröffentlicht wurde. Vier italienische Verhaltensökonomen – Mirco Tonin (Freie Universität Bozen), Mario Macis (John Hopkins University), Guglielmo Briscese (University of Chicago) und Nicola Lacetera (University of Toronto) – haben darin die Bedeutung der Erwartungen von Menschen zur Dauer des Kontaktverbote genauer untersucht. Diesbezüglich gibt es unterschiedliche staatliche Vorgehenswesen: Während Länder wie China den Corona-Shutdown auf unbestimmte Zeit eingeführt haben, also sie nicht von vornherein mit einem Datum begrenzt haben, haben Italien wie auch viele andere Länder sich dafür entschieden, erst einmal einen beschränkten Zeitraum zu definieren, der dann klarerweise verlängert werden kann.
„In einer gemeinsamen Umfrage mit dem Meinungsforschungsinstitut SWG haben wir eine repräsentative Anzahl von Italienerinnen und Italienern nach ihren Absichten befragt, sich an die Vorgaben zur häusliche Isolation zu halten. Dabei stellten wir drei verschiedenen Szenarien in Aussicht – eine Verlängerung der Maßnahmen um einige Wochen, um einige Monate oder auf unbestimmte Zeit”, erklärt Mirco Tonin, Professor für Wirtschaftspolitik an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der unibz. Die Ergebnisse zeigen, dass die Neigung zur Einhaltung der Regeln von den individuellen Erwartungen an eine mögliche Verlängerung der Einschränkungen abhängt. Bei einer positiven Überraschung, also einer Verlängerung, die kürzer als erwartet ausfällt, zeigten die Befragten eine größere Bereitschaft zur strengen Selbst-Isolation. „Bei einer negativen Überraschung, sprich einer Verlängerung der Kontaktverbote, die über die eigenen Erwartungen hinausgeht, tritt der gegenteilige Effekt ein, und die Neigung, die häusliche Isolation beizubehalten oder noch konsequenter zu betreiben, sinkt”, so der Dozent der unibz.
Auch weitere Ergebnisse der Studie könnten für Behörden hilfreich sein, um die Kommunikationspolitik in der aktuellen Krise bzw. bei künftigen Notfällen anzupassen: Allen voran zeigen sie, dass sich in Italien rund 50 Prozent der Befragten noch nicht an alle Vorgaben der Ausgangsbeschränkungen halten, wie zum Bespiel das Verbot, Freunde zu treffen. Die Mehrheit der Befragten wusste zwar, bis wann die Maßnahmen verhängt wurden (3. April). Personen über 60 Jahre hatten damit allerdings weit größere Probleme: Jeder dritte Befragte dieser Altersgruppe nannte bei dieser Frage ein falsches Datum. Fast alle Befragten erwarten, dass die Einschränkungen über den 3. April hinausgehen werden. Allerdings gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die Dauer: Rund 40 Prozent der Befragten erwarten, dass sie um einige Wochen verlängert werden, 20 Prozent gehen von einigen Monaten aus und 40 Prozent glauben, dass sie auf unbestimmte Zeit, also so lange wie es notwendig sein wird, fortgeführt werden. Ältere Befragte haben tendenziell die Erwartung, dass die Maßnahmen früher enden.
Sollten die Maßnahmen verlängert werden, beabsichtigt eine klare Mehrheit der Befragten, die häusliche Isolation fortzuführen, und zwar unabhängig von der Dauer. Darüber hinaus zeigte sich eine Mehrheit bereit, in diesem Zeitraum ihre Bemühungen der Selbstisolation eher zu verstärken als zu verringern.
Wer sich allerdings bereits heute an alle vorgeschriebenen Maßnahmen der Ausgangsbeschränkungen hält, ist eher dazu geneigt, dagegen zu verstoßen, wenn die Einschränkungen noch über die eigenen Erwartungen hinaus verlängert werden. Dies deutet auf drohende Ermüdungserscheinungen hin, also auf die Gefahr, dass nicht unbegrenzt auf die Disziplin der Menschen gesetzt werden kann, die sich derzeit besonders regelkonform verhalten. „Jene Befragten, die derzeit die Vorschriften zur Selbstisolation nur teilweise befolgen, zeigen eine größere Bereitschaft, sich strenger daran zu halten, wenn die Verlängerung der Maßnahmen kürzer ausfallen sollte als sie erwarten. Liegt sie dagegen über ihren Erwartungen, sinkt auch bei ihnen die Bereitschaft zu mehr Disziplin”, erklärt Mirco Tonin.
Vor dem Hintergrund solcher Daten, sollten die Behörden laut dem Professor der unibz im Rahmen der Krisenkommunikation ein besonderes Augenmerk auf die Dauer der Einschränkungen von persönlichen Freiheiten legen. „Es wäre angemessen, dabei auch die Erwartungshaltung der Bevölkerung zu berücksichtigen, um eine möglichst strikte Einhaltung der Eindämmungsmaßnahmen zu erreichen,” so Tonin, „denn eine unerwartet lange Verlängerung könnte die Bereitschaft der Menschen zur Einhaltung der Regeln verringern.”