Von: mk
Bozen – Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben bewerten die 4.500 befragten Beschäftigten in der gesamten Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino als zufriedenstellender (85 Prozent) als der europäische Durchschnitt (81 Prozent). Dennoch zeigt die Studie kritische Punkte auf, insbesondere bei den Selbstständigen. Diese klagen über größere Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben als etwa die Lohnabhängigen. Problematisch sind die Branchen Verkehr und Logistik, Hotellerie und Gastronomie sowie die Landwirtschaft.
Heute wurden die Ergebnisse der Euregio-EWCS-Studie (European Working Conditions Survey) zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in den drei Territorien der Euregio Tirol-Südtirol-Trentino vorgestellt. Die Tagung wurde vom AFI | Arbeitsförderungsinstitut als lokaler Partner zusammen mit der Euregio und den anderen Partnerinstitutionen – der Landesarbeitsagentur der Provinz Trient, welche die Studie erstellt und vorgestellt hat, sowie Arbeiterkammer Tirol.
Zufriedenstellende Vereinbarkeit für die Mehrheit der Beschäftigten in der Euregio
Die Studie zeigt, dass 85 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten in der Euregio mit ihrer Work-Life-Balance zufrieden sind. Dies ist besser als der EU-Durchschnitt von 81 Prozent. Der beste Wert wird in Tirol verzeichnet, wo 87 Prozent mit der Vereinbarkeit zufrieden sind gegenüber 85 Prozent im Trentino und 84 Prozent in Südtirol.
Auch Teilzeit wirkt sich auf die Zufriedenheit positiv aus: Diejenigen, die teilzeitbeschäftigt sind, geben in 93 Prozent der Fälle an, zufrieden zu sein, verglichen mit 83 Prozent der anderen Arbeitnehmer. Wie Isabella Speziali, Direktorin des Büros für Arbeitsmarktpolitik der Trentiner Landesarbeitsagentur, betont, “betrifft dieser Umstand vor allem Frauen – diese arbeiten in etwa in vier von zehn Fällen in Teilzeit, also viermal öfter als Männer. Obwohl die teilzeitbeschäftigten Frauen generell stärker in die Betreuung von Haus und Familie eingebunden sind, geben sie an, mit der von den Unternehmen gewährten Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation zufriedener zu sein”.
Hinderungsgründe für eine gute Vereinbarkeit
Im Allgemeinen kann eine gute Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf durch mehrere Faktoren beeinträchtigt werden: Dazu zählen lange Arbeitszeiten, Überstunden, Schichtarbeit, die Sechs- oder gar Siebentagewoche und starre Unternehmensstrukturen.
Vor allem Selbstständige äußern sich am wenigsten positiv: 81 Prozent sind “zufrieden” gegenüber 86 Prozent bei den lohnabhängig Beschäftigten. Was lange Arbeitszeiten betrifft, so bringt das hohe berufliche Engagement für einige die Notwendigkeit mit sich, auch in der Freizeit zu arbeiten, wovon besonders Führungskräfte und hochspezialisierte Berufe betroffen sind.
Zu den in Bezug auf die Vereinbarkeit problematischen Sektoren gehören die Landwirtschaft, das Gastgewerbe und der Bereich Verkehr und Logistik – die Spanne der Zufriedenen reicht hier von 77 bis 83 Prozent -, also Wirtschaftszweige, die häufig ein höheres Maß an Engagement erfordern. Arbeitsstellen in den Finanzdienstleistungen und generell im öffentlichen Sektor (vor allem im Bildungswesen) zeichnen sich durch flexible Arbeitszeiten sowie größere vertragliche Garantien aus und gehören in punkto Vereinbarkeit zum Spitzenfeld (Spanne der Zufriedenen zwischen 88 bis 89 Prozent).
Speziali resümiert: “Die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass viele Frauen, um sich ihrer Arbeit widmen zu können, eine stundenweise Verpflichtung akzeptieren, die es ihnen ermöglicht mehr Zeit für die Betreuung ihrer Familien aufzubringen. Die vermeintlich große Zufriedenheit der Frauen ist aber auch ein zweischneidiges Schwert, denn sie ist ein direktes Ergebnis des Verzichts vieler Frauen auf Karrierechancen“.
Best-Practice-Modelle und Podiumsdiskussion
Um zu veranschaulichen, wie die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf verbessert werden kann, wurden drei vorbildliche Modelle aus der Europaregion vorgestellt: Michael Wörzer aus dem Bundesland Tirol präsentierte den Wettbewerb „Familienfreundlichster Betrieb Tirols“, Patrizia Pace veranschaulichte das öffentlich-private Dienstleistungssystem im Trentino, wobei sie das Work-Life-Ökosystem für den Sommer in den Mittelpunkt stellte. Christa Ladurner von der Allianz für Familie erläuterte, wie neue Betreuungsmodelle zu einer gerechteren Verteilung der familiären Lasten zwischen den Eltern führen können und Michaela Stockner von der Südtiroler Familienagentur strich die Bedeutung der Gemeinden als zentrale Akteure für Familienfreundlichkeit hervor.
Barbara Gerstenberger, die Vertreterin der renommierten Eurofound-Stiftung in Dublin und Leiterin der europaweiten EWCS-Originalstudie, stellte die europäischen Ergebnisse vor und verwies auf die jüngste Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Eltern mit Betreuungsbedarf, die vom Europäischen Rat im Juni 2019 verabschiedet wurde. Die Tagung wurde von AFI-Direktor Stefan Perini moderiert.
Die nächste Präsentation der Euregio EWCS-Studie wird am 20. November 2023 in Innsbruck stattfinden. Bei dieser Gelegenheit werden die Ergebnisse zum Thema Betriebsklima vorgestellt, zu dem unter anderem Vertrauen und Zusammenhalts am Arbeitsplatz unter Kollegen sowie die Beziehung zwischen Mitarbeitern und Führungskräften gehören.
„Die Daten über die Vereinbarkeit von Familien mit finanziellen Schwierigkeiten haben mich betroffen gemacht: Wenn deren Vereinbarkeit schlechter ist als die von Familien mit einem höheren verfügbaren Einkommen, bedeutet das, dass bessergestellte Familien leichter private oder öffentliche Unterstützungsdienste in Anspruch nehmen können. Eine gute Vereinbarkeit sollte jedoch kein Privileg der Wohlhabenden sein, sondern ein allen zustehendes Recht“, erklärt AFI-Präsident Andreas Dorigoni.
„Zu einer guten Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehört die gleichmäßige Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen. Mit dem Aktionsplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern, der sich jetzt auf der Zielgeraden befindet, wollen wir ein deutliches Zeichen in diese Richtung setzen“, betont Südtirols Landeshauptmann, Arno Kompatscher.
Die Studie ist auf der Internetseite www.afi-ipl.org abrufbar. Alle fünf Jahre führt die in Dublin ansässige Europäische Stiftung für die Qualität der Arbeitsbedingungen (Eurofound) in 36 europäischen Staaten die Erhebung der Arbeitsbedingungen (EWCS) durch. Sie wurde in der Europaregion im Jahr 2021 mit 4.500 Telefoninterviews im Bundesland Tirol, Südtirol und dem Trentino repliziert und ermöglicht einen direkten Vergleich aller untersuchten Aspekte der Arbeitsbedingungen zwischen den drei Gebieten. Dieses von der Europaregion finanzierte und unterstützte Projekt ermöglicht es den drei Partnerinstituten, vertiefte thematische Studien zu den Arbeitsbedingungen in den drei Landesteilen zu betreiben.