Von: luk
Bozen – Im Auftrag der Südtiroler Landesregierung haben Forscher von Eurac Research und der Steinbeis-Hochschule eine Zukunftsstudie für Südtirol – mit Fokus auf die Nachhaltigkeit – durchgeführt.
Wie stellen wir uns Südtirol im Jahr 2030 vor – mit den Erfahrungen der Covid-19-Pandemie vor Augen? Wünschen wir uns eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte, Bräuche und Familienstrukturen? Eine Öffnung hin zur Welt, verbunden mit einer sozial fairen und ökologisch nachhaltigen Produktions- und Lebensweise? Hätten wir lieber eine Welt, in der die Individualisierung und Beschleunigung der Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt, mit der Folge, dass der Ressourcenverbrauch weiter ungezügelt steigt? Konzentrieren wir uns auf ein „grünes Wachstum“ mit einer weitreichenden technologischen Vernetzung? Mit Unterstützung eines 20-köpfigen interdisziplinären Beirates, zusammengesetzt aus Fachleuten aus Südtirol und dem Ausland, haben Forscher von Eurac Research und der Steinbeis-Hochschule, School of International Business and Entrepreneurship (SIBE), eine Zukunftsstudie für Südtirol mit besonderem Fokus auf die Nachhaltigkeit durchgeführt. Das Kernstück der Studie sind vier gleichwertige Szenarien, die heute in einer Online-Pressekonferenz vorgestellt wurden. Als nächsten Schritt wollen die Forscher nun auch die Meinungen und Anregungen der Interessensvertreter im Land einholen; die Befragung startet Ende Oktober.
Um zu wissen, wie sich Märkte, Branchen und Gesellschaft entwickeln werden, arbeiten Unternehmen schon seit Jahren mit der sogenannten strategischen Vorausschau. Immer häufiger werden Zukunftsszenarien auch in der Städteplanung und Regionalentwicklung angewandt. „Ziel der strategischen Vorausschau ist es nicht, die Zukunft vorherzusagen, sondern sich systematisch und wissenschaftlich fundiert mit verschiedenen Zukunftsszenarien auseinanderzusetzen, ebenso wie mit den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. Letztlich hilft uns die strategische Vorausschau, durch Handeln in der Gegenwart die Zukunft zu gestalten, die wir uns wünschen“, sagt Beiratsmitglied Heiko von der Gracht, Professor für Zukunftsforschung an der SIBE der Steinbeis-Hochschule, der den Projektprozess und die Methodik der Studie begleitet hat.
Als ersten Schritt befragten Forscher von Eurac Research ein interdisziplinäres Expertenteam dazu, welche wesentlichen globalen Entwicklungen, ihrer Meinung nach, eine alpine Region wie Südtirol in den nächsten 10 Jahren und mehr beeinflussen werden. Außerdem gaben die Experten – für ihr jeweiliges Fachgebiet – die kurzfristigen Herausforderungen in Zusammenhang mit der Covid-19-Krise an. Zu den globalen Entwicklungen und Herausforderungen, welche die Ratsmitglieder nannten – Klimawandel, Urbanisierung, Migration, technologischer und demographischer Wandel sind nur einige davon – untersuchten die Forscher von Eurac Research daraufhin die Fachliteratur, analysierten dazu zahlreiche Zukunftsstudien sowie die entsprechende nationale und internationale Medienberichterstattung und durchforsteten Trenddatenbanken.
Ein Überblick über die möglichen Zukunftsszenarien für Südtirol
Die Szenarien wurden bildlich durch einen professionellen Zeichner in Illustrationen umgesetzt – wie in Wimmelbildern veranschaulichen sie das Leben in der entsprechenden Zukunft. Bei der Ausgestaltung der Szenarien berücksichtigten die Forscher neben der globalen Ebene folgende Bereiche: Gesellschaft, Gesundheit, Wirtschaft, Umwelt, Politik und Technologie. Die Szenarien beschreiben die Zukunftsbilder retrospektiv, so als würde die Südtiroler Bevölkerung aus dem Jahr 2030 zurückblicken.
Szenario I: Welt des regionalen Bewusstseins – „In der Tradition liegt die Stärke“
Im Jahr 2030: Die Covid-19-Pandemie hat den Wettstreit zwischen Nationen und geopolitischen Blöcken zugespitzt und zu einer generellen Verunsicherung und Polarisierung in der Bevölkerung beigetragen.
Viele Menschen in Südtirol verspüren ein ausgeprägtes Heimatgefühl und eine starke regionale
Identität. Die soziale Sicherheit der eigenen Bevölkerung, gefördert durch eine gezielte Sozial- und
Umverteilungspolitik, und der Schutz der heimischen Natur stehen im Zentrum der politischen
Aufmerksamkeit. Über die letzten zehn Jahre hat ein radikaler Wandel stattgefunden, der in eine Art
Abgrenzung vom „Außen“, eine Wendung hin zu „analogen Lebensweisen“ und eine Rückbesinnung
auf traditionelle Werte, Bräuche und (Familien-) Strukturen gemündet ist.
Szenario II: Welt des Neo-Kosmopolitismus – „Denke global, handle lokal”
Im Jahr 2030: Die Covid-19-Pandemie hat die Verletzlichkeit und Nicht-Nachhaltigkeit einer hyper-globalisierten und auf dauerhaftes Wachstum ausgerichteten Weltwirtschaft deutlich gemacht und zu einem radikalen Umdenken in Richtung sozial fairer und ökologisch nachhaltiger Produktions- und Lebensweisen beigetragen. Der Großteil der Menschen in Südtirol fühlt sich solidarisch mit der Weltgemeinschaft verbunden. Der Ausgleich sozialer und ökonomischer Ungleichheiten, eine partizipative Politik der Mitgestaltung sowie Klima- und Umweltschutz stehen ganz oben auf der politischen Agenda. In den letzten zehn Jahren hat ein tiefgreifender, struktureller Wandel stattgefunden, der zu einer tendenziell wachstumsneutralen Neuausrichtung in vielen Bereichen der Gesellschaft geführt hat.
Szenario III: Welt der individuellen Freiheit – „Ich bin meines eigenen Glückes Schmied(in)”
Im Jahr 2030: Die Covid-19-Pandemie hat das Vertrauen in Marktmechanismen und in Wettbewerb als wichtigstes gesellschaftliches Ordnungsprinzip gestärkt. Die meisten Südtirolerinnen und Südtiroler legen Wert auf eine individuelle Handlungsfreiheit. Leistung und Eigenverantwortung gehören zu den bestimmenden gesellschaftlichen Leitprinzipien. Sie spiegeln sich in den zentralen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wider: Privatisierungen, Deregulierung von Märkten und der Abbau bürokratischer Hürden. Diese und ähnliche Reformen wurden in den letzten zehn Jahren stark vorangetrieben. Sie haben zu einer Individualisierung und Beschleunigung der Gesellschaft und zu einem Aufblühen des Unternehmens- und Pioniergeistes beigetragen. Gleichzeitig kam es jedoch auch zu einem höheren Ressourcenverbrauch und noch stärker ansteigenden Emissionen.
Szenario IV: Welt der grünen Innovationen – „Es gibt für alles eine (technologische) Lösung“
Im Jahr 2030: Die Covid-19-Pandemie hat zu einer Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit und des globalen Austausches von Information, Waren und Dienstleistungen geführt. Die meisten Menschen in Südtirol sind dank neuer Technologien und wachsender Kooperationsnetzwerken mit der Welt in einem „Global Village“ vernetzt. Wirtschaftswachstum, technologischer Fortschritt und Investitionen in Forschung und Bildung werden als wichtigste Instrumente zur Wohlstandssteigerung gesehen. Auch bei sozialen und ökologischen Herausforderungen wurden daher in den letzten zehn Jahren gezielt Maßnahmen ergriffen, die vor allem auf Innovation und Effizienzsteigerungen setzen und „grünes Wachstum“ fördern sollen.
„Unsere Aufgabe war es, mutige Zukunftsszenarien für Südtirol zu entwerfen. Nun haben wir die erste Phase unserer Arbeit abgeschlossen und ein breites Spektrum an Perspektiven und Handlungsoptionen für ein nachhaltiges Südtirol 2030 erarbeitet. Als nächsten Schritt werden wir Interessenvertreter im Land einladen, ihren Standpunkt und ihre Vorstellungen zur zukünftigen Entwicklung Südtirols in Richtung Nachhaltigkeit zu äußern“, sagt Harald Pechlaner, Wirtschaftswissenschaftler von Eurac Research und wissenschaftlicher Leiter der Studie. Um spezifischen Interessen und Bedürfnissen im Land gerecht zu werden, sollte am Ende nicht ein bestimmtes Szenario dominieren, sondern Elemente aus unterschiedlichen Szenarien kombiniert werden, die eine neue Zukunftsperspektive ergeben. Die Studie soll Denkanstoß für die nachhaltige Entwicklung Südtirols sein, die Weichenstellung dafür liegt jedoch in den Händen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger.
Besonderes Augenmerk legten die Forscher auf eine Einschätzung, ob und in welchem Ausmaß die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs – Sustainable Development Goals) innerhalb der einzelnen Szenarien erreicht werden können. „Es braucht einen gemeinsamen Maßstab, um die Anstrengungen für eine nachhaltige Entwicklung einzuordnen. Die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen sind deshalb unser Maßstab, der die Südtiroler Fortschritte international vergleichbar machen soll. Auch bei diesem Projekt war es der Südtiroler Landesregierung deshalb wichtig, diesen Maßstab anzuwenden. Damit wir sofort erkennen können, welche Szenarien der nachhaltigen Entwicklung am besten dienen“, meint Landeshauptmann Arno Kompatscher abschließend.
Den vollständigen Studienbericht findet ihr hier!