Von: mk
Bozen – Ein internationales Forschungsteam der Universitäten von Bozen, Padua, Grenoble und Jerusalem hat sich in einer interdisziplinären Studie auf die Spuren von Sturzfluten begeben – und eine forensische Methodik entwickelt, um die Ursachen solcher Katastrophenereignisse zu verstehen und Überschwemmungen besser vorzubeugen. Ihre Schlussfolgerung: Statt noch mehr Dämme zu bauen oder Flüsse von Treibgut zu reinigen, braucht es vor allem eine breite Aufklärung, sagt Prof. Francesco Comiti von der Freien Universität Bozen.
Castelletto d’Orba (Alessandria), Bettola (Piacenza), Refrontolo (Treviso) und Prags (Südtirol) – dies sind nur einige von Dutzenden italienischer Ortschaften, in denen Sturzfluten in den vergangenen Jahren zu großen materielle Schäden – und mit Ausnahme von Prags – auch Menschenopfern geführt haben. Wie Statistiken zeigen, handelt es sich dabei nicht um ein rein italienisches Phänomen: Zwischen 1950 und 2005 sind in Europa 2800 Menschen, das sind 50 im Jahr, diesem Phänomen zum Opfer gefallen und aufgrund des Klimawandels kann davon ausgegangen werden, dass das Risiko für solche Katastrophen weiter steigt.
Neue Erhebungsmethode
Einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung von Schäden an Gebäuden, Land und Menschen kann die Forschung liefern. Wie zum Beispiel eine Studie mit dem Titel “Forensic analysis of flash flood response”, also forensische Analyse des Umgangs mit Sturzfluten, die von Prof. Borga koordiniert wurde und in diesem Jahr in der Fachzeitschrift WIREs Water veröffentlicht wurde. Darin haben Forscherinnen und Forscher der Universitäten von Padua, Bozen, Grenoble und Jerusalem die Ergebnisse aus einer 10-jährigen Analyse solcher Sturzflut-Ereignisse veröffentlicht. Der Ausdruck forensische Analyse wird deshalb verwendet, weil die Methodik des internationalen Forschungsteams Ähnlichkeiten mit den Ermittlungen in Folge eines Verbrechens hat. In diesem Fall werden als Indizien allerdings Daten zu Niederschlagsmengen, tatsächlich erhobenen und am Computer simulierten Pegelständen, zu Erosionen und Ablagerungen in den Flussbetten, aber auch zum Verhalten der beteiligten Personen hergenommen. Neben hydrologisch-geomorphologischen Aspekten berücksichtigt das interdisziplinäre Team auch, welche Rolle Menschen in solchen Katastrophenfällen spielen. „Wenn es bei Sturzfluten zu Todesfällen kommt, ist sehr oft auch menschliches Fehlverhalten mit im Spiel. Zum Beispiel, wenn Menschen mit dem Auto fahren, obwohl sie gewarnt wurden, es nicht zu tun“, sagt Prof. Francesco Comiti, der in Bozen eine Forschungsgruppe zur Dynamik von Flussgebieten und der Verminderung hydrogeologischer Risiken leitet. Die Analysemethode, die von Forschenden der Universitäten in Bozen und Padua entwickelt wurde, beinhaltet deshalb auch Interviews mit Anrainern der Katastrophengebiete, mit denen der Hergang vor und während der Unwetterereignisse genau rekonstruiert wurde. „Es ist beispielsweise auch von Bedeutung, ob es starken Wind oder Hagel gab, wie sich die Sturzflut im zeitlichen Ablauf entwickelte, ob Bäume und Pflanzen mit den Fluten mittransportiert wurden und zu Verklausungen führten und wie die Betroffenen jeweils reagierten“, so Comiti.
Überwachungsmaßnahmen in Südtirol
Das Bozner Team um Francesco Comiti, der an der Fakultät für Naturwissenschaften und Technik Naturgefahrenmanagement an Bergwasserläufen lehrt, besteht seit einem Jahrzehnt und untersucht insbesondere den Geschiebetransport (Sedimente und Holz) von Bächen und Flüssen. Gemeinsam mit der Agentur für Bevölkerungsschutz der Provinz Bozen arbeiten die Forschenden der unibz an Überwachungs- und Frühwarnsystemen, um Schäden so weit wie möglich vorzubeugen. Nichtsdestotrotz sind die Zeitfenster, um bei Gebirgsbächen- und flüssen auf Gefahren zu reagieren, sehr klein, und deshalb muss auch die Bevölkerung geschult werden, wie sie sich in Gefahrensituationen zu verhalten hat. Ein großes Problem in diesem Zusammenhang stellen auch Touristen dar, die nicht wissen können, was geschieht und wie sie reagieren sollten.
Mehr Raum für den Fluss und Aufklärung der Bevölkerung
Die Ergebnisse der forensischen Analyse sprechen eine klare Sprache: eine 100-prozentige Hochwassersicherheit gibt es nicht, ein Null-Risiko ist selbst in Gebieten mit effizientem Hochwasserschutz wie Südtirol nicht zu erreichen. Auch wenn diese Botschaft verstören mag, hilft sie, die Bevölkerung noch stärker zu einem richtigen Verhalten im Hochwasserfall anzuhalten. Denn Dämme und andere Schutzbauten können oft ein falsches Sicherheitsgefühl erwecken, die Aufmerksamkeit vermindern und vor allem zur Besiedelung von Gefahrenzonen führen. Dabei ist Südtirol Vorreiter bei der Ausweisung solcher Risikogebiete: Die Provinz Bozen hat eine vollständige Kartierung der Etsch von Meran bis Salurn durchgeführt, auf der alle möglichen Hochwasserflächen sowie Stellen angeführt sind, die von etwaigen Dammbrüchen betroffen wären. „Ein Restrisiko kann auch bei vorhandenen Schutzbauten nicht ausgeschlossen werden, vor allem im Fall starker Sturzfluten“, sagt Prof. Comiti. „Die effizienteste Vorbeugung von Seiten der Gemeinden ist sicherlich, Bautätigkeiten in solchen Gefahrenzonen zu unterbinden oder jene Gebiete, in denen bereits Menschen wohnen oder arbeiten, zu evakuieren, sobald sich heftige Unwetter ankündigen.“
Der Dozent räumt auf Basis der Forschungsergebnisse auch mit der weit verbreitenden Meinung auf, dass ein mangelndes “Aufräumen” der Flüsse zu Überschwemmungen führe. „Tatsächlich steht das erhöhte Risiko von heute mit falschen Raumordnungs-Entscheidungen der Vergangenheit in Zusammenhang”, sagt der Forscher. Denn das Flussbett der meisten Gewässer sei derart eingeengt worden, dass sie sich bei starken Niederschlägen wieder den Platz zurückholen, der ihnen genommen wurde – wie zuletzt im Oktober auch in Castelletto d’Orba offensichtlich wurde. „In diesem und auch anderen Fällen, die wir untersucht haben, hatte das Vorhandensein von Holz oder anderen Vegetationsabfällen in den Flüssen keinerlei Auswirkungen auf die Sturzflut“, unterstreicht Francesco Comiti.