Von: mk
Bozen – Geht es um berufliche Interessen, nehmen viele Arbeitnehmer die Angelegenheit am liebsten selbst in die Hand. Geht nichts weiter, müssen Gewerkschaften und Sozialverbände herhalten. Wie die Herbstwelle des AFI-Barometers ans Licht fördert, sehen nur wenige Südtiroler Arbeitnehmer ihre Interessen durch Staat, Kirche oder politische Parteien gewahrt.
Von welchen Organisationen sehen Südtirols Arbeitnehmer ihre Interessen vertreten? Diese Frage hat das AFI | Arbeitsförderungsinstitut rund 500 Personen in der aktuellen Ausgabe des AFI-Barometers gestellt. Bereits vor fünf Jahren wurden Südtirols Arbeitnehmer mit derselben Fragestellung konfrontiert. Im Zeitvergleich treten viele Bestätigungen ans Licht, aber zum Teil auch markante Verschiebungen.
Selbst sind die Arbeitnehmer
Selbst will man es richten. 73 Prozent der Befragten teilen die Meinung, dass jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin selbst am besten die eigenen Interessen vertritt und durchsetzt. Immerhin 66 Prozent sehen die Interessen der Arbeitnehmer am besten bei den Gewerkschaften aufgehoben, 61 Prozent bei den Sozialverbänden. Erstaunlich niedrig sind die Erwartungen politischen Parteien gegenüber (18 Prozent).
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Geht man wissenschaftlich ins Detail, sind es gerade die etwas schwächeren Gruppen am Arbeitsmarkt, die in den Gewerkschaften einen verlässlichen Ansprechpartner sehen: die Jungen stärker als die Alten, Frauen in höherem Maß als Männer, Beschäftigte auf Zeit mehr als Festangestellte, Teilzeitkräfte mehr als Vollzeitmitarbeiter. „Der Umstand, dass die Under30 den Gewerkschaften stärker die Rolle der Interessensvertretung zusprechen als die Over50 überrascht etwas, zumal die Mitgliederstruktur der Gewerkschaften eher das Gegenteil vermuten ließe“, hebt AFI-Direktor Stefan Perini hervor.
Gewerkschaften und Staat holen auf
Haargenau dieselbe Frage hatte das AFI Südtirols Arbeitnehmern schon vor fünf Jahren gestellt. Vergleicht man die Antworten von heute mit jenen von damals, stechen einige signifikante Veränderungen ins Auge: Die Nennung „jeder für sich selbst“ bleibt auch heute noch auf Platz eins, verliert aber im Zeitvergleich neun Prozentpunkte (von 81 auf 72 Prozent). Deutlich stärker als Vertreter ihrer Interessen sehen die Arbeitnehmer heute die Gewerkschaften (sie holen 19 Prozentpunkte auf und klettern von Platz fünf auf Platz zwei) und den Staat (plus 17 Prozentpunkte, bleibt aber nach wie vor an drittletzter Stelle). Die politischen Parteien holen zwar etwas auf (von zehn auf 18 Prozent), bleiben aber das Schlusslicht.
Die Latte liegt hoch
Für was sollten sich Gewerkschaften stärker einsetzen? Südtirols Arbeitnehmer erwarten sich von den Gewerkschaften, dass sich diese in folgenden vier Themenfeldern stärker engagieren: Schutz vor Diskriminierung, höhere Löhne, soziale Gerechtigkeit und Vereinbarkeit von Leben und Beruf. Statistisch kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass mehr als dreißig Prozent der Interviewten die Maximalbewertung von zehn angegeben hat, auf einer Skala von null (wenig Einsatz) bis zehn (maximaler Einsatz). Andere Themenbereiche erfahren ebenfalls hohen Zuspruch und liegen nur knapp hinter den Top vier: Einsatz für Belange prekär Beschäftigter, flexible Arbeitszeiten und Recht auf Weiterbildung.
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Anfang einer neuen Ära?
Im Vergleich zu den Antworten vor fünf Jahren zeigt sich: Der Individualismus nimmt ab, das kollektive Denken wieder zu. “Ich möchte die Ergebnisse nicht überinterpretieren, aber es stellt sich schon die Frage, ob wir gerade eine Renaissance des Kollektivismus erleben“, gibt Perini zu bedenken. „In schwierige Zeiten wächst die Erkenntnis, dass man in der Gruppe mehr erreicht als alleine. Vielleicht hat Corona diese Erkenntnis wieder zum Leben erweckt“.
„In der schwierigen Zeit des Lockdown waren Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen rund um die Uhr im Einsatz, um Jobs zu sichern, soziale Abfederung zu garantieren und den Menschen mit Information und Beratung zur Seite zu stehen. Offensichtlich sind unsere Bemühungen auf fruchtbaren Boden gefallen. Das Ergebnis des AFI-Barometers ist für uns einerseits Bestätigung, aber auch Auftrag, den steigenden Erwartungen gerecht zu werden“, erklärt AFI-Präsident Dieter Mayr.