Von: sis
Bozen – Mit der Umsetzung des nationalen Wiederaufbauplans “PNRR Gesundheit” und der Entwicklung hin zur wohnortnahen medizinischen Versorgung, wird die Familien- und Gemeinschaftskrankenpflege noch flächendeckender eingesetzt. Mit diesem Thema befassen sich Pflegedirektorin Marianne Siller und Siglinde Rottensteiner, Stabstelle für wohnortnahe Versorgung beim Sanitätsbetrieb. Das Berufsbild Familien- und Gemeinschaftskrankenpfleger/in wurde schon vor einigen Jahren im Südtiroler Sanitätsbetrieb eingeführt. Ziel ist es, eine gesundheitliche Betreuung „möglichst nah dran“ am Patienten oder der Patientin anzubieten.
Mit der Umsetzung der Maßnahmen, die vom nationalen Wiederaufbauplan PNRR vorgesehen sind, wird die Familien- und Gemeinschaftskrankenpflege und somit die familienzentrierte Betreuung noch engmaschiger eingesetzt. Die Betreuung, die ein Mensch benötigt, direkt bei ihm zu Hause anzubieten, stellt nämlich eine der Säulen des nationalen Wiederaufbauplans dar.
Im folgenden Interview erläutern Pflegedirektorin Marianne Siller und Siglinde Rottensteiner, Stabstelle für wohnortnahe Versorgung beim Südtiroler Sanitätsbetrieb, die Besonderheiten dieses Berufsbildes und informieren über die Vorteile, die dieses Angebot mit sich bringt.
Können Sie uns erklären, worin die Arbeit des/der Familienkrankenpflegers/in besteht?
Rottensteiner: Die Familien- und Gemeinschaftskrankenpflegerin kümmert sich um die pflegebedürftige Person und die Familie, sie agiert auf verschiedenen Ebenene der Betreuung. Ihr Ziel ist es, den Patienten zu unterstützen bzw. den Patienten und seine Familie, und zwar so lange bis diese mit der (meist chronischen) Krankheitssituation und/oder Behinderung besser umgehen können. Im Wesentlichen ist sie Ansprechperson für die pflegebedürftige Person und deren Angehörige während des gesamten Betreuungsprozesses.
Siller: Sie hat im Laufe ihrer Tätigkeit mit vielen verschiedenen Fällen zu tun, von chronischen Krankheiten über pflegebedürftige Personen bis hin zu onkologischen Patienten, egal welchen Alters oder Geschlechts.
Der/Die Familienkrankenpfleger/in gehört zu den Hauptakteuren der wohnortnahen Gesundheitsversorgung. Welche Chancen ergeben sich durch den noch gezielteren Einsatz?
Siller: Ich sehe eine enorme Chance bei der Verbesserung der Symptombehandlung und bei den pflegebedürftigen Personen, aber auch bei der Unterstützung der Familien oder betreuenden Angehörigen. Dadurch kann den Betreuer:innen die Last der Verantwortung erleichtert werden und sie können auch wertvolle Zeit für sich selbst zurückgewinnen. Ebenso können Unsicherheiten im Umgang mit Krankheit oder Behinderung verringert werden.
Rottensteiner: Der Pflegeberuf wird aufgewertet, indem dieser Tätigkeit eine größere Sichtbarkeit gegeben wird. Die Pflegerin agiert nicht nur als Leistungserbringerin, sondern kümmert sich auch mit unterstützenden Gesprächen umfassend um die Patienten und Familien.
Sprechen wir über Familien mit einer hilfsbedürftigen Person, die ständige Pflege benötigt. Wie wichtig ist hierbei die Koordination aller beteiligten Akteure und was unternimmt der Sanitätsbetrieb, um die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen sozio-sanitären Berufen zu fördern?
Siller: Was die Initiativen von Seiten des Sanitätsbetriebes betrifft, verweise ich auf den PNRR Gesundheit in seinem vollen Umfang, im speziellen auf die neuen Einrichtungen, die bis 2026 geschaffen werden, wie die Wohnortnahen Einsatzzentralen, die Gemeinschaftshäuser sowie dieGemeinschaftskrankenhäuser. Besonders durch letztere können nicht notwendige Zugänge in die Krankenhäuser des Landes verhindert und somit die Notaufnahmen und Krankenhausabteilungen entlastet werden. Dabei muss auch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der verschiedenen Berufe berücksichtigt werden; dieser Aspekt wird auch durch die Errichtung einer integrierten sozio-sanitären Taskforce vertieft.
Warum hat der vermehrte Einsatz der Familienkrankenpflege einen Einfluss auf die Notaufnahme und Krankenhausaufnahmen?
Siller: Weil eine Pathologie nicht nur in der akuten Krankheitsphase behandelt wird. Auf Selbstmanagement und Prävention wird nämlich besonders Wert gelegt, indem mit einem proaktiven Ansatz gearbeitet wird und eine Orientierung hin zu möglichen Gesundheitsrisiken erfolgt. All dies ist entscheidend, um rechtzeitig eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei der hilfsbedürftigen Person zu vermeiden.
Wie sieht die Ausbildung für jene genau aus, die eine Tätigkeit in der Familienkrankenpflege anstreben?
Rottensteiner: Der Spezialisierungslehrgang für Familien- und Gemeinschaftskrankenpflege ist Anfang Dezember in seiner dritten Auflage zu Ende gegangen. Er hat eine Dauer von drei Jahren und ist in verschiedene Module unterteilt, die sowohl Frontalunterricht als auch interaktive Lehreinheiten umfassen. Der Lehrgang ist an das Konzept der Family Health and Family Systems Nursing, welches von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlen worden ist, angelehnt. Für jeden Lehrgang ist eine maximale Anzahl von 15 Teilnehmer/innen vorgesehen.
Die Beziehung zwischen dem Familienkrankenpfleger/der Familienkrankenpflegerin und dem Patienten einerseites, und mit der Familie andererseits: diese „Zweispurigkeit“ birgt auch ein gewisses kritisches Potential in sich, denn eine Beziehung funktioniert möglicherweise besser als die andere. Wie werden die Synergien in diesem komplexen Netz aus menschlichen Interaktionen gefördert?
Rottensteiner: Die Beziehungen basieren auf der Bildung gegenseitigen Vertrauens und die Eingriffe in das Familiensystem, welche die Pflegerinnen beim Gespräch umsetzen, funktionieren in diesem Sinne. Unter anderem wirken sie sich auch positiv auf die Kommunikation innerhalb der Familie aus.
Siller: In der Vergangenheit wurden die Angehörigen nicht gezielt einbezogen, heute ist es jedoch einfach diesen Weg zu beschreiten. In Studien konnte nachgewiesen werden, dass z.B. bei onkologischen Patienten die posttraumatische Belastung geringer ist, wenn die Angehörigen in den Heilungspfad involviert werden. Gleiches gilt auch für Diabetespatienten, die deutlich bessere Blutwerte aufwiesen, wenn sie von jemanden unterstützt worden sind. Man kann also davon ausgehen, dass der Empathie eine ebenso bedeutende Rolle im Heilungsprozess zukommt wie der Rehabilitation.
Wie wird die wohnortnahe Gesundheitsversorgung in 5 Jahren aussehen?
Siller: Der Bevölkerung stehen mehr gleichwertige Dienste zur Verfügung, eine wohnortnahe Betreuung sowie ein besser strukturierter Maßnahmenplan mit weniger Schwachstellen. Darüber hinaus wird mehr über den Erhalt der Gesundheit als über die Krankheit gesprochen. Natürlich hängt alles davon ab, ob es uns gelingt, die gemäß PNRR vorgesehenen Einrichtungen umzusetzen. Dank dieser können wir schließlich die wohnortnahe Betreuung verwirklichen.
Rottensteiner: In der familienzentrierten Betreuung setzen wir eine vertraute Ausdrucksweise ein und wir messen den Familien- und Gemeinschaftskrankenpfleger:innen mehr Bedeutung bei und verschaffen ihnen Gehör.